aus / from: Bielefelder Stadtblatt Nr. 7, 10. Februar 1994

Kurt Gerland

Das Kind im Kontrapunkt
Der Komponist und Musiker Moondog

Braucht die Kunst, und hier besonders die Musik, Prinzipien? Regeln, die den Komponisten und Musiker zwingen, nach bestimmten Schemen vorzugehen?

Es gibt wohl kaum jemanden, der diese Fragen vorbehaltloser bejahen würde als Louis Hardin, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Moondog. Als der 77-jährige bei unserem Gespräch auf das Thema zu sprechen kommt, wird seine sonst so sanfte Stimme energisch. Er versteht sich als einer der letzten Bewahrer der Lehre vom Kontrapunkt, einer Komposltlonslehre, die bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht. Die Abfolge der einzelnen Klänge wird hier ähnlich einer mathematischen Formel zu einem Musikstück zusammengesetzt. Moondog benutzt diese Vorgehensweise zur Komposition von Symphonien, vielstimmigen Kanons, Chaconnes, aber auch für eher schlicht anmutende Lieder.

"Durch die Beachtung der Regeln des Kontrapunktes" erzählt er, "wird meine Musik durchsichtig und für jeden verständlich. Das ist wie eine Quelle mit glasklarem Wasser, durch das du bis auf den Grund sehen kannst. So sollen Kompositionen sein. Durchsichtig wie frisches Wasser und kein bißchen schlammig. Der weitaus größte Teil der bis heute geschriebenen Musik wirkt nicht so, weil sich die Komponisten nicht an diese unverzichtbare Lehre halten."

Für Moondog lässt sich nur so musikalischer Wohlklang erreichen. Er verbringt sehr viel Zeit damit, seine eigenen Werke Note für Note nach dieser Formel zu überprüfen. Komponisten, die sich der "Tortur" nicht unterziehen, lehnt er ab. Diebisches Vergnügen bereitet es ihm auch, klassischen Größen wie Bach oder Beethoven Verstöße in dieser Richtung nachzuweisen.

"Sogar in den Brandenburgischen Konzerten gibt es zahlreiche Unstimmigkeiten. Bach hat sich bei etwa 2/3 seines Werkes an die Regeln gehalten, aber damit wäre ich nicht zufrieden. Ich will alles 100% richtig machen, aber", fügt er verschmitzt hinzu, "ich habe auch die Ruhe und die Zeit dazu. Bach hatte die aufgrund seiner vielen Verpflichtungen als Familienvater wohl nicht."

Gefunden hat Moondog diese Ruhe nach langer rastloser Odyssee im Ruhrgebiet, genauer, in Oer-Erkenschwick. Dort lebt er mit seiner Managerin in deren Elternhaus. "Zum Arbeiten brauche ich nur einen ruhigen Raum, einen Tisch und Papier. Am liebsten komponiere ich nachts, weil es dann wirklich still ist. Alle schlafen und nirgends ist ein Fernseher zu hören."

Die musikalischen Einfälle, die Moondog in diesen Nächten kommen, sind so zahlreich, daß er gar nicht die Zeit hat, sie alle in die Tat umzusetzen. Er habe, so berichtet er, noch stapelweise Kartons voller Ideenskizzen zu Hause, die bis in die 50er Jahre zurückreichen. Der natürliche Enthusiasmus, mit dem er das erzählt, erinnert an die Begeisterung von Kindern, die über Ihre Entdeckungen parlieren. Ein solches Element läßt sich auch in seinen Werken ausmachen. Seine in den späten 70ern entstandenen "H'art Songs" etwa besitzen in ihren einfachen unwiderstehlichen Melodien den Charme von Kinderliedern. Etwas Spielerisches, das im krassen Gegensatz zu Moondogs "Regelbesessenheit" zu stehen scheint, aber gerade diese offensichtlichen Kontraste beleben sein Schaffen.

"Jeder hat viele Seiten mit ganz unterschiedlichen Gesichtern. Das sind die Facetten, die sich letztendlich zu einer Persönlichkeit vereinen. Für mich war ein naives Element immer besonders wichtig, und es ist mir gelungen, diese kindliche Betrachtungsweise zu behalten. Neugeborene Kinder sind so unberührt und naturverbunden. Wir zerstören diese Reinheit, wenn sie aufwachsen, und wir sie mit Erziehung vollstopfen."

Der Einfluß indianischer Kultur

Um diese Denkweise verstehen zu können, sollte man einen Blick in Moondogs eigene Kindheit werfen. Geboren wurde er 1916 als Sohn eines Wanderpredigers in Maryville/Kansas. Schon früh machte er die Bekanntschaft mit indianischer Kultur und deren Rhythmik. Der legendäre Häuptling Yellow Calf ließ den Sechsjährigen auf seinem Schoß sitzen und die große Sonnentrommel schlagen. Der Grundstock einer Faszination, die ihn sein Leben lang begleiten sollte. Noch heute bildet diese bisweilen fast swingende Rhythmik den Herzschlag seiner Musik.

Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht prägten die indianischen Kulturen seine Denkweise, auch seine vorher zitierten Ansichten zur menschlichen Naturverbundenheit haben hier ihre Ursprünge:

"Indianische Kulturen, auch die der Inkas und Mayas, kannten das Rad nicht und waren doch auf faszinierende Weise zivilisiert. Sie hatten kein Rad, brauchten also keine Straßen. Für uns ist es natürlich zu spät, die Gesellschaft in eine radlose Zeit zurückzuversetzen. Wir müssen dieses Los und alle durch die Erfindung des Rades entstandenen Konsequenzen weitertragen, und das wird immer schwieriger. Ich würde nicht so weit gehen, daß ich mich nie wieder in ein Auto setzen würde, aber für mich sind Maschinen keine Weiterentwicklung, da sie zwar Gutes, gleichzeitig aber auch Böses wie Umweltverschmutzung oder Streß beinhalten. Ein Schritt in die Vergangenheit könnte in diesem Zusammenhang durchaus ein Schritt in die Zukunft sein. Ich denke dabei oft an meine Kindheit, als dem besten Freund des Menschen, dem Pferd, noch eine weitaus dominantere Rolle als heute zufiel." (Die hinter diesem Statement stehenden Gedanken hat Moondog in seiner "Suite Equestria" - zu finden auf seinem 1992 erschienen Album "Elpmas" - festgehalten).

Seine Kindheit fand ein böses Ende, als er im Alter von 16 Jahren bei einer Explosion sein Augenlicht verlor. Er entschloß sich zu studieren. Auf einer Blindenschule in Iowa kam er zum ersten Mal mit klassischen Klängen in Berührung. Er lernte Violine, Viola, Piano, Orgel, Chor- und Harmoniegesang und vertiefte sich in die theoretische Seite der Musik.

Doch für einen blinden Musiker, der sich nach seinem den Mond anheulenden Blindenhund Moondog nannte, war es in den Zeiten der amerikanischen Wirtschaftskrise und des 2. Weltkrieges schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Anfang der 40er Jahre war er in New York gestrandet und schlug sich als musizierender und dichtender Clochard durch. Moondog, der sich selbst als exzentrisch bezeichnet, stand damals Tag für Tag in einem Wikingerkostüm vor dem New Yorker "Hilton"-Hotel und versuchte, seine Werke zu verkaufen. Zu jener Zeit war er eine Kultfigur des "Big Apple". Das führte dazu, daß er andere musikalische Außenseiter aus der damals gerade neu aufkeimenden amerikanischen Szene traf. Er lernte Benny Goodman kennen, aber auch klassische Komponisten wie Leonard Bernstein und Igor Strawinsky. Mit dem jungen Bohème-Dichter Allan Ginsberg veranstaltete er musikalisch untermalte Poesieabende, und der Tenorsaxophonist Charlie Parker bot ihm die Zusammenarbeit an einem Album an. Ein Projekt, das am plötzlichen Tod von Parker scheiterte. Moondog aber entdeckte in dieser Zeit den Jazz als Gegenpol zu seiner strikten klassischen Kompositionsweise.

"Meine Musik ist eine Form des Jazz, die aus einer klassischen Grundhaltung komponiert wird. Das ist wie bei einem Januskopf, deshalb heißt die neue Platte "Zajaz". Es gibt zwei Gesichter, die zwar in verschiedene Richtungen schauen, aber sich dennoch zu einem ergänzen."

Nur mit der für den Jazz so wichtigen Improvisation kann er sich nicht anfreunden. "Damit hat meine Musik nichts zu tun. Ich akzeptiere diese Form nicht einmal. Das Orchester weiß nicht, was die Solisten spielen und so entstehen eine Menge Mißklänge. Der einzige, der ein Recht zum Improvisieren hat, ist der Komponist bei der Komposition, weil er den Überblick hat."

Auch das am Sonntag in Gütersloh zur Aufführung kommende Moondog-Werk "Musik für neun Saxophone, Piano, Schlagwerk und Gesang" bildet da keine Ausnahme. Vieles mag zwar improvisiert klingen, ist aber letztendlich doch nach den beschriebenen klassischen Kriterien komponiert. Am Saxophon reizen Moondog dabei vor allem die Parallelen, die sich beim Spielen zur menschlichen Stimme ergeben.

Rock und Jazz

"Mein erstes Saxophonstück habe ich bereits 1958 geschrieben. Später, als ich Mitte der 70er nach Europa übersiedelte, habe ich viel in dieser Richtung weitergearbeitet, schrieb zwei Suiten für sieben Saxophone, eine für neun. Ich mag diesen warmen Klang, den es beim Spielen entfaltet, und es erfüllt für mich weitaus eher die gängigen Jazzidiome als die meisten anderen Instrumente."

Die Proben für das Konzert beginnen erst einen Tag vorher. Auch die Begleitmusiker Moondogs werden in dieser Besetzung erstmals zusammen auftreten, so daß es statt der Improvisation der Klänge wohl eher eine Improvisation zwischen unterschiedlichen Charakterwelten geben wird. Ein ähnlich geartetes Projekt wurde bereits auf der "Documenta '92" in Kassel zelebriert. Damals standen Moondog neben klassischen Musikern auch Vertreter der neueren Musik wie Peter Hammill, der frühere "Stackridge"-Sänger Andrew Davis und der "Pentangle"-Bassist Danny Thompson zur Seite.

Darüber hinaus hält sich Moondog in Bezug auf die Pop- und Rockmusik eher bedeckt. Mitte der 50er Jahre spielte er zwar mit der "Mary Poppins"-Darstellerin Julie Andrews ein Album mit Kinderliedern ein, und auch die Faszinationsbekundungen von Musikern wie Frank Zappa, Paul Simon oder Robbie Robertson schmeicheln ihm, aber sobald das Gespräch auf "All Is Loneliness" kommt, jenes von ihm komponierte Lied, das auch von Janis Joplin interpretiert wurde, verzieht er das Gesicht. "Sie hat dieses Stück zerstört, weil sie sich bei ihrem Gesang nicht an die von mir durch die Komposition vorgegebenen Regeln gehalten hat." Und natürlich findet auch die Popmusik der neueren Zeit in ihm keinen Fürsprecher. "Diese Musik hat viel zu viel mit McDonalds und Coca-Cola gemeinsam. Sie hat keine Seele, sondern wird nur gemacht, um für einige Wochen in die Charts zu kommen. Danach schreiben sie ein genau so schlechtes neues Stück nach dem gleichen Strickmuster. Mit dem Begriff der Kunst, wie ich ihn verstehe, hat das nicht viel zu tun."

Eine Ausnahme ist für Moondog der Schweizer Musiker Stefan Eicher. Von ihm ließ sich Moondog sogar überreden, als Gastmusiker ins Studio zu kommen. Für den Sommer dieses Jahres planen die beiden die Produktion eines gemeinsamen Albums, das nur Songs von Moondog enthalten soll.

Louis Hardin wird so im Alter nach dem Auf und Ab in seinem Leben doch noch der ihm zustehende Ruhm zuteil. Die selbsternannten Kultureliten reißen sich um ihn, was er eher amüsiert zur Kenntnis nimmt, und der französische Architekt und Moondog-Anhänger Philip Stark plant sogar den Bau eines ihm gewidmeten Gebäudes in Tokio. Doch dieser Ruhm nach vielen Jahren des Nichterfolges regt ihn auch zum Nachdenken an. "Ich habe mir damals oft gesagt, du schaffst es nicht, das Weltgeschehen läuft an dir vorbei. Beruhigt hat mich dann immer der Spruch des englischen Komponisten Robert Elgard. Er sagte, daß dich der Erfolg zerstört, wenn er zu früh kommt. Nun, bei mir kommt er fast zu spät, vielleicht habe ich nur noch ein Jahr, um mich daran zu erfreuen, aber ... (und da kehrt das verschmitzte Lächeln zurück) es ist tröstlich, daß sich bei vielen anderen der Erfolg erst nach dem Tod eingestellt hat."

Moondog in Concert: Musik für neun Saxophone, Piano, Schlagwerk und Gesang am 13.2. in der Aula des Städtischen Gymnasiums Gütersloh.