aus / from: Keyboards (1990) p. 82

(AP): Moondog-Music


"Es ist nicht Jazz, es ist nicht Rock, es ist nicht Klassik, es ist nicht Pop - es ist Moondog!" So überschwenglich lobte einst ein Pariser Kritiker den blinden amerikanischen Komponisten, Perkussionisten und Sänger, der mit "richtigem" Namen Louis Thomas Hardin heißt, nach eigenem Bekenntnis ein Nachfahre des legendären Outlaw John Wesley Hardin ist und am 26. Mai 74 Jahre jung wird.

Lange Jahre war Moondog fast vergessen (in seinem Geburtsland galt er gar als verstorben), aber seit kurzem feiert er ein triumphales Comeback. Der Startschuß fiel am 8. November letzten Jahres in New York, als das Brooklyn Philharmonic Orchestra auf dem 10. "New Music America"-Festival einige seiner Werke aufführte - bejubelter Höhepunkt einer Veranstaltungsreihe, die sich immerhin mit New-Music-(Pop)-Stars wie Steve Reich, Philip Glass und Laurie Anderson schmücken konnte. Zwar ließ mancher Kritiker hernach Zweifel durchblicken, ob der von seinen Anhängern kultisch Verehrte als Vertreter einer Neuen Musik gelten könne. Tatsächlich wirken Moondogs strikt tonal und kontrapunktisch angelegte Kompositionen eher "klassisch"; Tape- und Elektronik-Experimente sucht man bei ihm vergebens. Wer sich jedoch auf das rund 1500 Kompositionen umfassende Moondog-Oeuvre einlässt, das bislang nur zum geringeren Teil veröffentlicht ist, dem verfliegt rasch die Skepsis gegenüber dem nur scheinbar hilflosen Kritikerurteil aus Frankreich: Hardins Musik sperrt sich wirklich gegen jeden Versuch der Einsargung in gängige Genre- und Stilkisten. Was bleibt uns anderes übrig, als eine neue Abteilung im Musik-Journal zu eröffnen - nur hier, nur heute und so bald nicht wieder: Moondog Music.

1943, als 27jähriger, kommt der in Marysville, Kansas, geborene Pfarrerssohn Louis Hardin, der mit sechzehn sein Augenlicht bei einer Sprengstoffexplosion verloren hat ("It breaks you or it makes you") und seine Orgel-, Piano- und Streicherstücke in der Braille-Schrift (Blindenschrift) notiert, nach New York City. Dort legt er sich im Jahr 1947 den Künstlernamen Moondog zu, "zu Ehren eines Hundes, den ich in Hurley, Missouri, hatte und der wie kein anderer den Mond anbellte". Drei Jahrzehnte lang steht der akademisch trainierte und musiktheoretisch sattelfeste Tonsetzer, der - rauschebärtig und gewappnet mit Wikingerhelm und Normannenspeer - wie eine Figur aus der nordischen Mythenwelt wirkt, an der Ecke 54th Street/Sixth Avenue, schlägt die Trommel, singt seine Songs, verkauft seine Gedichte.

In den Sechzigern ist er Pflichtstation jeder Sightseeing-Tour, und das "Hilton" wirbt für sich in der New York Times: "Gegenüber von Moondog".

1974, nach einer Europa-Tournee, wechselt der eigenbrötlerische Genius, der zwar von so unterschiedlichen Größen wie Paul Hindemith, Arturo Toscanini, Charlie Parker, Benny Goodman, Leonard Bernstein, Pete Seeger und den Beatles hochgeschätzt wird, der sich jedoch in Amerika mit seiner Liebe zur europäischen Klassik als "Europäer im Exil" empfindet, den Arbeitsplatz und steht fortan an deutschen Straßenecken, zunächst in Hamburg, dann in Recklinghausen. 1976 holt ihn eine Verehrerin, die Studentin Ilona Goebel, ins benachbarte Oer-Erkenschwick, bringt ihn im elterlichen Haus unter, sorgt dafür, daß seine Kompositionen in Notenschrift transkribiert werden, kümmert sich um Management und Plattenaufnahmen; ihr zuliebe tauscht der Wikinger schließlich Helm und Speer gegen die weniger martialische Wollmütze ein.

Der konservative Avantgardist ("today is yesterday's tomorrow which is now") komponiert unablässig, nimmt Platten auf und schreibt zusammen mit dem Wiener Maler Ernst Fuchs eine historische Oper. Aber die Öffentlichkeit nimmt immer weniger Notiz von ihm, und seine Platten sind bald nur noch als teure Sammlerstücke zu haben. Das wird nun anders: Das Bochumer Label Roof Music hat soeben in limitierter Auflage eine Box mit drei auch einzeln erhältlichen CDs veröffentlicht, die unter dem passenden Titel "Tonality All The Way" drei wichtige Moondog-Alben aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder zugänglich macht: "Moondog In Europe" (BMG ARIS/ROOF 883 443-907; Spieldauer: 43:16; AAD), "H'art Songs" (BMG ARIS/ROOF 883 444-907; Spieldauer: 39:53; AAD) und "A New Sound Of An Old Instrument" (BMG ARIS/ROOF 883 445-907; Spieldauer: 35:37; AAD). Den Platten sind ausführliche lnforrmationen beigegeben, wenn auch nicht einleuchtet, weshalb man im Fall der "H'art Songs" auf die aufschlußreichen Kommentare des Komponisten, die der Original-LP beilagen, verzichtet hat.

Zusammen mit den 1969/71 unter Leitung von James William Guercio, dem damaligen Produzenten der Jazzrock-Formation Chicago, eingespielten Alben "Moondog I" und "Moondog II", die kürzlich von der amerikanischen CBS auf einer Einzel-CD wiederaufgelegt wurden (freier Import: CBS MK 44994; Spieldauer: 74:48), ermöglicht der digitale Dreierpack einen guten Überblick über ein vielfältiges Werk. Dazu zählen großorchestrale Symphonien mit Verweisen auf Tschaikowsky, Gershwin und Goodman ("Moondog I") ebenso wie eine Kanonsammlung für Stimme, Perkussion und Cembalo/Piano ("Moondog II"), Streichquartette ("In Europe"), Orgelstücke ("A New Sound ...") und nicht zuletzt Songs, in denen der Komponist zu komplizierten Pianoparts (Fritz Storfinger) Melodielinien von bisweilen kinderliedhafter Schlichtheit singt ("H'art Songs"). Diese Verbindung von Komplexität und Naivität, klassischer Formstrenge und spielerischer Leichtigkeit ist es, die den Reiz der Moondog-Musik ausmacht, deren Wirkung sich kaum jemand wird entziehen können, der erst einmal ihre Bekanntschaft gemacht hat.

Die Gelegenheil dazu war nie günstiger: Auch auf dem neuen Album des Schweizers Stephan Eicher ("My Place", Phonogram 841025) ist ein Moondog-Song zu hören, und noch in diesem Monat wird der alte Meister seine gerade vollendete "Symphonie Nr. 73 in C-Dur" in der Londoner Royal Albert Hall uraufführen, auf Einladung des englischen Bassisten Danny Thompson, der dort sein 30jähriges Berufsjubiläum feiert. Hören Sie Moondog jetzt!

(Roof Music, Prinz-Regent-Str. 50-60, 4630 Bochum)