aus / from: Zeitmagazin Nr. 13, 20. März 1992 p. 34-36

Christoph Biermann

Würdiger Wikinger


Wer mit 75 Jahren zum Schamanen für die Jugend werden will, muß es machen wie Moondog alias Louis Thomas Hardin: Mit kosmischen Obertönen, Kontrapunkt, Indianer-Harmonien und Wikinger-Outfit begeistert der blinde Komponist die Pop-Generation seiner Enkel.

So würden Kinder den lieben Gott malen. Aber Moondog, der alte Mann mit dem freundlichen, würdevoll zerfurchten Gesicht, dem schlohweißen Haar und langem Bart, der bis auf den Bauch reicht, ist im Moment von ganz unhimmlischem Eifer befallen. Sein Kopf ist schon nicht mehr zu sehen, und fast muß man befürchten, daß er völlig im offenen Konzertflügel verschwindet.

Der Komponist ist auf der Suche nach dem richtigen Ton. Doch im Kabel- und Gerätegewirr des Tonstudios, zwischen Bandmaschinen, Reglern und Musikinstrumenten ist fürs erste nur ein leises Schnaufen zu hören. Mit 75 Jahren fällt die Suche schwer. Konzentriert tasten die schlanken Finger im Innenleben des Instruments die Saiten ab. Plink, plink, plonk. Geduldig dämpft die linke Hand und zupft die rechte. Irgendwo muß er doch sein, der Oberton, der sechzehn Takte lang steht. Plonk, punk, plinngg "fifteen, sixteen. That's it!" Da ist er - lang und klar.

Später wird dieser sphärische Oberton irgendwo in Moondogs zwanzigminütige "Cosmic Meditation" eingeschmolzen sein, die himmlisch rein und majestätisch im Raum steht und dem Zuhörer ähnliche Gefühle entlocken soll wie dem Komponisten in der Nacht ihres Entstehens: "Schon da sind mir Schauer über den Rücken gelaufen." Doch Moondog ist ganz von dieser Welt, seine kleineren, weltlichen Stücke besitzen stets eine Klarheit von fast therapeutischer Qualität. Diese einfachen Melodien, die oft so eingängig wie Kinderlieder sind, lösen sein Versprechen ein, das Ohr nicht zu verletzen. Trotz der raffiniert komplizierten, teilweise jazzigen Rhythmen oder vertrackten Kanonstrukturen.

Ein seltsam gemischtes Publikum wird von der Musik des blinden alten Moondog angezogen. "Kommt total gut", wispert das Mädchen in der zweiten Reihe, streicht die langen Haare zurück und schließt die Augen. An diesem Abend in Münster - der Saal ist ausverkauft, der WDR zeichnet auf - ist Moondog so etwas wie ein New-Age-Star. Irgendwie kosmisch, meditativ, geheimnisvoll. Jeder hier kennt schließlich die Meilensteine seiner Lebensgeschichte. Er ist der blinde Komponist, der als "Wikinger" auf den Straßen New Yorks musiziert hat, um heute zurückgezogen in Oer-Erkenschwick zu leben, einem Bergbaustädtchen am Nordrand des Ruhrgebiets. Sein Aussehen regt die Phantasie seiner jungen Zuhörer zusätzlich an. Mit Waschbärschwanz am Gürtel und Schellenhandschuhen sitzt Moondog vor der kleinen Gruppe Bläser und Streicher und dirigiert oder spielt auf einer indianischen Trommel.

Moondog weiß sich zu inszenieren und hat Spaß daran; nur ist er weder Schamane noch Freak oder Spinner, sondern vor allem ein seriöser Komponist. Ein besonders seriöser, wie er findet: "Ich bin der einzige Komponist, der die Gesetze des Kontrapunktes nicht verletzt", sagt er, und der jungenhafte Charme des Alten muß für einen Moment uneingeschränkter Ernsthaftigkeit weichen. "Ob Beethoven, Mozart oder Bach, der als Meister des Kontrapunktes gilt, alle haben sie dagegen verstoßen."

Was bei manchem Zuhörer als kosmische Durchflutung "total gut kommt", ist die Folge unerbittlicher Einhaltung jahrhundertealter Kompositionsregeln. Der strenge Rahmen, den die Gesetze des Kontrapunktes ziehen, gibt seiner Musik einen fremden Charakter, jenseits von Zeit und Raum. Aber nicht nur bei Hungrigen auf der Suche nach transzendentalen Erfahrungen ist Moondogs Musik beliebt. Auch bei konservafiven Hörern findet der Außenseiter inzwischen Anerkennung. Zweimal wurde Moondog bereits zu den Salzburger Festspielen eingeladen. Im nächsten Sommer wird er auf der documenta in Kassel zu hören sein. Das renommierte American Ballet Theatre geht demnächst mit einer Choreographie zu seiner Musik auf Tournee durch die Vereinigten Staaten. Neue Werke stellt er von Zeit zu Zeit an prestigereichen Stätten wie Londons Royal Albert Hall vor.

Manchem modernen Komponisten gilt Moondog als Vorbild. Für den Minimalisten Philip Glass etwa, der sich zu Moondogs Verdruß allerdings nicht an den Kontrapunkt hält. Auch Leonard Bernstein war einer von Moondogs Verehrern. Doch es sind nicht nur Musiker, die ihn schätzen. Ein Fan ist auch Philippe Starck. Der französische Designerstar hat sogar, von der Musik Moondogs inspiriert, ein "Moondog-Building" entworfen, das in Tokio gebaut werden soll. Auf dem Cover von "ELPMAS" (ein Ananym für den Begriff "Sample"), Moondogs neuer Langspielplatte, ist es zu sehen.

So schillernd sich Moondogs Musik zusammenfügt - klassisch, unakademisch und uneuropäisch zugleich -, so abenteuerlich ist seine Lebensgeschichte. Als Louis Thomas Hardin im Sommer 1932 an den Bahngleisen in der Nähe des Elternhauses in Wyoming mit gefundenen Sprengkapseln hantierte, explodierten sie. Louis Thomas verlor dabei sein Augenlicht. Der Junge, aus dem Moondog werden sollte, war damals gerade sechzehn Jahre.

"Ich wollte nicht mehr weiterleben", sagt er, "aber was blieb mir? Ich mußte mich darauf einstellen." Sein Vater, ein Wanderprediger, schickte Louis zur Blindenschule, auf der er drei Jahre lang eine musikalische Grundausbildung erhielt. Mit 27 ging er nach New York. "Im Herbst 1943 bin ich dort angekommen. Schon drei Wochen später habe ich den Dirigenten der New Yorker Philharmoniker kennengelernt. Artur Rodzinski erlaubte mir, bei allen Proben dabeizusein." Fünf Jahre lang kam er fast täglich, hörte zu, lernte berühmte Solisten, Dirigenten, Komponisten kennen und versuchte sich an eigenen Kompositionen. In dieser Zeit wandelte sich sein Äußeres zu einer bizarren Figur: dem Wikinger. "Ich hatte begonnen, in der ,Edda' zu lesen. Ich war auf der Suche nach meiner Identität, und in den Sagas fand ich sie." Fortan lief er mit gehörntem Helm, Speer und langem Umhang durch New York.

1948 brach der Wikinger nach Westen auf. Er hatte Heimweh nach dem einfachen Leben. Schon als Kind hatte er sich von der Lebensweise der Indianer angezogen gefühlt und besonders vom Rhythmus ihrer Musik. Er lebte in Indianerreservaten, kehrte aber nach einigen Monaten nach New York zurück. Der normannisch-indianische Kulturtausch hatte nicht funktioniert, den Indianern war der Wikinger suspekt geblieben.

Moondog, so nannte er sich jetzt nach seinem Blindenhund, der immer den Mond anheulte, spielte an einer New Yorker Straßenecke auf seiner dreieckigen Trommel, um über die Runden zu kommen. Nicht immer hatte er zu dieser Zeit eine Wohnung. Zeitweise mußte er auf der Straße schlafen. "Das war eine schwere Zeit, aber ich hatte die Wahl: entweder die Straße, trotz Kälte und Regen, oder in einem Blindenheim Matten und Körbe flechten. So eine Schattenexistenz wollte ich auf keinen Fall."

Ab und zu feierte Moondog kleine Erfolge mit seiner Musik. Mitte der fünfziger Jahre erschienen zwei LPs mit Kompositionen, die am Jazz orientiert waren. Mit Julie Andrews nahm er eine Platte mit Kinderliedern auf.

Zwei Langspielplatten mit Symphonien und Madrigalen wurden Ende der sechziger Jahre veröffentlicht. Ein wirklicher Durchbruch aber blieb trotz sporadischer Würdigungen aus. So kehrte er immer wieder an die Ecke 54. Straße/ Sixth Avenue zurück und verkaufte eigene Gedichte und seine Schallplatten. Seine selbst in New York auffällige Erscheinung hatte ihn längst zu einer Sehenswürdigkeit gemacht, und das "Hilton"-Hotel warb in einer Zeitungsanzeige: "Sie finden uns gegenüber von Moondog."

Im Jahre 1974 verlor die Straßenecke ihr Wahrzeichen. Moondog, der einer Einladung des Hessischen Rundfunks gefolgt war, blieb im Land seiner musikalischen Ahnen, im Land Beethovens und Bachs. Über Hamburg kam er 1975 auf Einladung eines Fans nach Recklinghausen, wo die Odyssee des damals 69ährigen vor einer Apotheke im benachbarten Oer-Erkenschwick endlich ein Ende fand.

"Viertel, third space. Viertel fifth line, verbunden. Ganze first line", diktiert Moondog - dort nun zweisprachig. Dieses Kauderwelsch im Wohnzimmer in Oer-Erkenschwick steht für Musik. Routiniert huscht die Hand von Ilona Göbel über das Papier und hinterläßt gestochen scharfe Noten. Tausende von Seiten sind so beschrieben worden, seit die Mittdreißigerin den Wikinger vor sechzehn Jahren an der Apotheke angesprochen hat und er im Haus ihrer Eltern aufgenommen wurde. Ilona Göbel kann nicht nur mit Moondogs Schaffensdrang Schritt halten, sie ist auch seine Betreuerin und Managerin.

"She is my eyes", faßt Moondog diese Symbiose zusammen. Ihr zu Gefallen hat er sogar seinen Helm gegen eine Wollmütze getauscht und den Speer weggelegt, denn er weiß, daß ohne Ilona Göbel die Kreativitätsexplosion und der Erfolg der letzten Jahre nicht möglich gewesen wären. Fast unablässig komponiert er, nur von wenigen Stunden Schlaf und Spaziergängen auf dem Balkon unterbrochen. Immer gewaltiger werden die Werke, die er entwirft. "Die Schöpfung", eine Komposition von neunstündiger Dauer, und ein tausendstimmiger Kanon sind zur Zeit seine Lieblingsprojekte.

Die Kapazitäten des Tonstudios in Düsseldorf würden durch solche Vorhaben gesprengt. Deshalb nimmt Moondog hier neben der großen "Cosmic Meditation" vor allem kleine, leichte Stücke auf, die teilweise wie Popsongs klingen. Der Ort paßt dazu. Das Studio von Andi Toma, einem dreißigjährigen Rockmusiker, ist halb Villa Kunterbunt, halb Hi-Tech-Ambiente.

Wo sonst Popmusik aufgenommen wird, korrigiert Andi Toma jetzt die Position des Mikrophons noch ein wenig, um die Aufnahme des gewünschten Tons zu ermöglichen. Dann hüpft er zum Mischpult hinüber und überprüft die Aussteuerung. Es ist soweit.

Noch einmal kriecht Moondog in den Konzertflügel und schlägt eine Saite an. Wieder schwebt ein Plinngg sechzehn Takte lang durch den Raum und wird im Speicher des Samplers aufgezeichnet. Ein weiterer kleiner Baustein, der nun jederzeit aus dem Computer abgerufen oder über das Manual eines Keyboards zu einer Melodie erweitert werden kann.

Zufrieden sitzt er vor dem Flügel, dem er soeben das dringend benötigte Plinngg abgerungen hat, und meint: "Die Wikinger sagen: Unsterblich wird man nur dadurch, daß sich die Menschen an dein Tun erinnern." Dann stützt er sich auf seinen Stock und lächelt. Tatsächlich: So wie Moondog würden Kinder den lieben Gott malen.