Tages Anzeiger (Schweiz), 8. Juli 1996


Roger Köppell

Lockruf der Wildnis

Viel Tourismus und ein Höhepunkt zum Start des 30. Jazzfestivals von Montreux


Ohne nennenswerte Zwischenfälle ist am Wochenende das Jazzfestival von Montreux mit einem wie immer fugenlos geschichteten Programm auf zwei Bühnen eröffnet worden. Den Anfang an diesem bunt durchmischten Jubiläumsanlass machte sinnigerweise der Berner Stephan Eicher, der mit über 100 Musikern aus Vietnam, Kambodscha, Burkina Faso und der westpazifischen Inselwelt zu einer Gala-Soiree von gut drei Stunden Dauer antrat. Auch ein paar Eingeborene aus den subalpinen Schweizer Alpenzonen schunkelten mit auf dieser grossangelegten Safari in die Savannen der Weltmusik. Eicher selber hielt sich während der meisten Zeit im Hintergrund als flanierender Conférencier mit Spazierstock und Dreitagebart.

Kollektion der Exotismen

Das Konzept entsprach in seiner Anlage den gutgemeinten Gesten, mit denen sich die Popmusik in einer von Rassismen und Entzweiungen gekennzeichneten Welt zum universalen Verbrüderungsinstrument aufschwingt. Eicher liess nigerianische Nomaden in Trachten und Gesichtsbemalungen tanzen. Aus dem indischen Ozean hatte er den blinden Sänger Langa und dessen Perkussionisten Bocalo mitgebracht, der aus einer Art Fusszonenreflexgerät merkwürdige rhythmische Figuren schüttelte. Nach Afrika war gemäss der Reiseroute von Eichers letzter Welttournee dann Asien an der Reihe. Zwischendurch wurde ein Set des amerikanischen Medizinmanns Moondog eingerückt, der das dicht gedrängte Publikum mit minimalistischen, bisweilen mickymaushaften Klavieretüden einseifte.
Insgesamt galt für Eicher die olympische Formel "We Are The World", ein Programm der unbegrenzten Mischungen, in denen sich alles mit allem verwursten lässt, kambodschanisches Schlagerhandwerk und frankophoner Chanson-Rock, Treichelmusik und poetisierender Pop aus Vietnam, ohne dass das eine dem anderen wirklich viel zu sagen hätte. Zu unkritisch erlag hier der weltgewandte Schweizer mit seinen Souvenirs dem Lockruf einer fernen Wildnis, die sich als blosse Parfümierung über einen bunten Abend legte.
Schon beim ersten Vorprogramm forderten die Fans, offensichtlich irritiert durch die Ballung der Trachtengruppen, ihren Star ans Mikrophon, doch Eicher, der erst viel später in die Harfe griff, wehrte ab mit einem rätselhaften Lächeln. Für einmal war dem Publikum recht zu geben: Die erratische Zusammenführung von Musikkulturen aus aller Welt, geeint nur durch die Reiseeindrücke eines Schweizer Liedermachers, blieb in ihrem Kern touristisch, eine Art Rolf-Knie-Kollektion der Exotismen.

Haerter siegt nach Punkten

Auf einem ganz anderen Intensitätsgrad wurde gleichenabends im Souterrain der Miles-Davis-Hall vor nahezu vollem Haus gespielt. Aufgrund einer Terminüberschneidung hatte man das Quintett des Zürcher Gitarristen Harald Haerter ins Vorprogramm des ewigen Montreux-Favoriten David Sanborn verlegt. Der Schweizer gewann nach Punkten mit seinem konfrontationsreichen Quetsch- und Brüll-Jazz, den er seit ein paar Jahren in wechselnden Formationen beständigen Verbesserungen zutrieb. In der heutigen Besetzung mit dem Saxophonisten Dewey Redman und dem jungen, noch etwas scheuen Zürcher Gitarristen Philipp Schaufelberger in der Rolle von Haerters solierenden Sekundanten dürfte die Gruppe einen vorläufigen Höhepunkt erreicht haben.
Schon nach wenigen Sekunden feuerte es aus vollen Rohren. Redman phrasierte im Tiefflug durch gesicherte harmonische Strukturen, handkehrum behielt er auch bei Haerters Harmoniezertrümmerungen magistral die Übersicht. Der Bandleader selber, an diesem Abend in ausgezeichneter Form, schabte sich am Griffbrett zu einer anderthalbstündigen Ekstase hoch und erwies sich dabei als Meister der Verzögerung gerade in Momenten höchster Spannung. Aus dem Nichts schienen zeitweise die Schwellsounds seiner Gitarre heranzuwehen, dann wieder liess er die Saiten heulen in schwelgerischen Bendings. Erstaunlicherweise blieb sein Spiel geradezu diskret angesichts der überwältigenden Triebabfuhr, die auf der Bühne inszeniert wurde. Offensichtlich hat der Zürcher einen Reifeprozess durchlaufen, der ihn Abstand nehmen liess von den früheren Selbstdarstellungen, mit denen er mitunter auch seine Bewunderer frustrierte.
Heute bringt er die Extreme mühelos zusammen, die ihm unter der Hand einst auseinanderfielen: Das Erdige mischt sich mit dem Durchgeknallten, noch die abstraktesten Ausschweifungen werden ins Instinktmässige nuanciert. Für Blues-Schmierereien à la ZZ Top ist er sich nicht zu schade, selbst Rock-'n'-Roll-Zitate gönnt er sich von Zeit zu Zeit - der Mehrwert lässt sich hörend messen. In diesem gefährdeten Genre, bei dem die Virtuosität nur allzu rasch ins seelenlose Hobeln driftet, hat der Zürcher eine Nische gefunden für die dionysischen Kräfte des Gemüts.
Das Gegenbeispiel war schon am Samstag zu vernehmen beim Auftritt des amerikanischen Bassisten Marcus Miller. Hier erwirkte die Jazz-Rock-Fusion als hochgepeitschtes Handwerk den minimalen Emotionsausstoss. Man rackerte sich ab wie wild, doch dem Publikum schliefen unverhofft die Füsse ein.