Berner Woche Nr. 239/1994 Szene 14. bis 20. Oktober


Bernhard Giger

Mühle Hunziken/ Vollmondnacht mit Moondog


Eine andere Art des Sehens


Zusammen mit den London Saxophonic, mit denen er in diesem Jahr auch das Album "Sax Pax for a Sax" herausbrachte, kommt der 78jährige blinde Musiker und Komponist Moondog bei Vollmond nach Rubigen.
Allein schon dieses Gesicht! Das Gesicht eines alten Mannes mit langen weissen Haaren und einem noch viel längeren weissen Bart. Aber auch ein Gesicht, in dem Jahrhunderte zu ruhen scheinen, die Ewigkeit. Ein weises Gesicht, eines, das mehr, viel mehr gesehen hat, als wir sehen können.
16 Jahre alt war Louis Hardin - wie Moondog eigentlich heisst -, als er beim Hantieren mit einer Sprengstoffkapsel, die explodierte, das Augenlicht verlor. Der 1916 in Maryville im Staate Kansas geborene Junge wollte danach nicht mehr weiterleben, sein Vater jedoch, ein Wanderprediger, schickte ihn auf eine Blindenschule. Dort fand er zur Musik. Und wohl auch zu einer anderen Art des Sehens.
Es muss ein Blick nach innen sein und zugleich einer, der über den Horizont hinausreicht und sich im Unendlichen Fixpunkte geschaffen hat, mit denen er sich seine ganz eigene Landkarte gezeichnet hat. Dies zeichnet die Biographie dieses Mannes aus: Er lebte zwar lange Jahre in New York und seit Mitte der siebziger Jahre in einem Dorf in der Nähe von Recklinghausen, in seinen Tätigkeiten und seiner Lebensweise jedoch ist er ein Wanderer und ein Forscher zwischen Zeiten und Welten.

New York und Europa

1943 ist Louis Hardin - von dem man sagt, er sei ein Nachfahre des Westerners John Wesley Hardin, dem Bob Dylan eine Platte widmete - nach New York gekommen. Der damalige Dirigent der New Yorker Philharmoniker, Artur Rodzinski, hat ihm ermöglicht, bei den Proben dabeizusein. Fünf Jahre lang hat er das gemacht und ist dann ein erstes Mal wieder weggegangen aus der Stadt, um mit Indianern zusammenzuleben. Nach seiner Rückkehr nach New York nannte er sich Moondog - sein Blindenhund soll mondsüchtig gewesen sein - und spielte auf der Strasse auf einer kleinen Trommel. Als Strassenmusiker und -poet - er trug auch Gedichte vor und verkaufte sie interessierten Passanten - wurde er stadtbekannt, nicht zuletzt darum, weil er sich wie ein Wikinger kleidete und mit Helm, Speer und in weitem Umhang herumzog. Die Ecke 54 Street/Sixth Avenue wurde sein fester Standplatz, das dort gelegene Hilton hat sogar mit ihm geworben und den Leuten in Inseraten erklärt, dass sich das Hotel gleich gegenüber von Moondog befinde.
In den frühen fünfziger Jahren kam es zu ersten Plattenaufnahmen, denen allerdings lange, bis Ende der sechziger Jahre, keine weiteren mehr folgten, weil der blinde Musiker und Komponist lieber seine Eigenart ausleben wollte, weil er weiterhin lieber der Wikinger sein wollte, als sich von Musikmanagern fremdbestimmen zu lassen.
1974 kam er, vom Hessischen Rundfunk eingeladen, nach Europa. Und blieb hier - genauer: in dem Doff Oer-Erkenschwick - hängen. Die damalige Studentin Ilona Göbel quartierte ihn in dem Haus ihrer Eltern ein und wurde seine Beraterin und Managerin, sein "Auge", wie Moondog sagt.
Zwischen Zeiten und Welten. So unterschiedlich, ja widersprüchlich die Orte und Lebenshaltungen von Moondog waren, so verschieden sind auch die Menschen, die seine Wege kreuzten. Toscanini und Charlie Parker gehören dazu, Leonard Bernstein hat von ihm geschwärmt, und in Allan Ginsberg hat er einen Dichterfreund gefunden. Er ist die Vaterfigur der Minimal Music, hat mit Julie Andrews eine Platte mit Kinderliedern eingespielt und bei Stephan Eichers Interpretation des "Guggisberg-Liedes" mitgewirkt (auf dem Album "My Place").
Als eine Hommage an Adolphe Sax, den Erbauer des Saxophons, der vor hundert Jahren gestorben ist, hat Moondog in diesem Jahr mit den London Saxophonic, die ihn auch in die Mühle Hunziken begleiten, in Bath das Album "Sax Pax for a Sax" aufgenommen. Aus Moondogs sanften Paukenwirbeln heraus bauen sich Klangbilder auf, die sich in eine Euphorie steigern, auf ihrem Höhepunkt aber nicht ausgewalzt werden und zum pathetischen New-Age-Sound ausarten, sondern fast unvermittelt ausklingen und eine mächtige Stille hinterlassen.
Ein anderes Sehen, ein anderes Hören, ein anderes Empfinden: Moondog mit seinem jahrhundertealten Gesicht bringt uns etwas näher, was wir nicht kennen, weil wir danach nicht gesucht und geforscht haben wie er. Vielleicht müssen wir wie einst sein Hund mondsüchtig werden, damit wir wenigstens einen Teil seiner geheimnisvollen Landkarte lesen können.

DAS KONZERT

Moondog und The London Saxophonic spielen am Mittwoch, 19. Oktober, in der Mühle Hunziken. 21 Uhr. Reservationen: 721 0 721