Der Rockmusiker Stephan Eicher über den blinden Musiker und Komponisten Moondog
Freund und Vorbild
Am 30. August treten in Winterthur im Rahmen der Winterthurer Musikfestwochen der Schweizer Rockmusiker Stephan Eicher und eine der interessantesten Figuren der modernen Musik, der blinde Komponist Moondog, gemeinsam auf. Für die "Weltwoche" schrieb Eicher ein Porträt seines Freundes und Vorbilds.
Ich lernte Moondog im Dezember 1987 in Rennes kennen. Er trat bei "Transmusical", einem meiner Lieblingsfestivals für neuere Musik, auf. Ich mochte diese Veranstaltung. Man konnte hier interessante Entdeckungen machen.
Die Freunde, mit denen ich im Auto nach Rennes fuhr, redeten während der ganzen Fahrt von nichts als Moondog. Moondog? ich fragte, was das sei.
Die Antwort lautete: eine Art von sehr minimalistischer, klassischer Musik aus der Hippie-Zeit. O Gott, dachte ich. Bestimmt nichts für mich!
Doch die Geschichten, die ich über Moondog hörte, übten einen seltsamen Reiz auf mich aus. Moondog. Ein alter blinder Mann, der ein Wikingerkostüm trägt und langes, weisses Haar. Janis Joplin hat ein Stück von ihm nachgespielt: "All is loneliness", auf ihrem berühmten Live-Doppelalbum.
Ich besuchte das Konzert. Auf der Bühne thronte herausgeputzt ein klassisches Orchester. Die Sitze im Saal waren numeriert. Seit meiner Schulzeit war ich in keinem klassischen Konzert mehr gewesen, und ein volles Symphonieorchester hatte ich mein Lebtag noch nicht gehört. Die Musik, die ich kannte, war immer aus Verstärkern gekommen
Aber das hier war Musik aus Holz und Katzengedärm und Pferdehaar. Noch nie hatte ich etwas so Schönes und Kräftiges gehört. Die Brillanz des Klanges. Die Dynamik des Orchesters. Diese Lautstärke! Diese Kraft!
Ich war gerade an der Arbeit für mein viertes Album "My Place". Auf "My Place" gibt es - ganz im Gegensatz zu meiner früheren Computermusik - Lieder für Streichquartette, völlig neue musikantische Zugänge zu Popsongs. Das meiste, da bin ich sicher, ist von diesem Moondog-Konzert beeinflusst.
Ich schickte Moondog einen Brief und ein Demoband des Guggisberg-Liedes, das ich gerade aufgenommen hatte. Wenige Tage später bekam ich den Retourbrief. Darin steckten grosse Bogen Notenpapier. Der Titel hiess: "Guggisberg-Lied-Arrangement. Von Moondog. Für Stephan."
Ich bat Moondog ins Studio, als wir in Brüssel "My Place" aufnahmen. Er blieb drei Tage und machte mir das Leben schwer. Für die Instrumentierung seines Streichquartetts für das Guggisberglied bestand Moondog auf vier Gamben. Die "Viola da Gamba" ist eine altertümliche Vorläuferin des Cellos. Mit Müh und Not gelang es uns, in Brüssel ganze zwei Gamben aufzutreiben. "Also können wir die Aufnahme nicht machen", sagte Moondog. "Moondog, wir nehmen zuerst zwei Spuren auf und dann noch einmal zwei." Er wurde still. Dann fragte er: "Wie machen wir denn das?"
Ich erklärte ihm, dass im Studio eine Maschine steht, die 48 Tonspuren aufnehmen und beliebig miteinander mischen kann. Ein vierstimmiger Satz wird in zwei Aufnahmesessions hintereinander aufgenommen. Moondog wurde noch einmal still; er verliess das Studio, ging ins andere Zimmer und kam nach einer Stunde mit einem "Kanon für 100 Alphörner" zurück.
Moondog ist blind. Er verlor sein Augenlicht mit 16 Jahren, als er mit Dynamit spielte. Nach seinem Unfall besuchte Moondog eine Blindenschule. Er nahm Musikstunden, ging später mit 60 Dollar in der Tasche nach New York, um Musiker zu werden. Er spielte auf der Strasse in der Nähe berühmter Jazz-Clubs. Die Musik, die er komponierte, ging auf balinesische, auf japanische Klänge zurück, auf indische Melodien, auf die Perkussion der Indianer und natürlich auf Klassik und Jazz. Moondog machte schon 1956, was heute en vogue ist: World Music.
Zeit ist für Moondog kein Kriterium. Er ist 76 Jahre alt und lebt in einem merkwürdigen zeitlichen Koordinatensystem. Moondog steckt genauso in den ältesten Wikingersagen wie in der Software seines Atari-Computers. Er kann zwischen Altertum und Zukunft buchstäblich hin und herzoomen.
Zu Beginn der siebziger Jahre kam Moondog nach Europa. Es war für ihn wie eine Heimkehr. Europa war das Land seiner grossen Inspirationen und geistigen Väter. Moondog lebte ein Jahr in Hamburg, dann lernte er Ilona Göbel kennen und zog zu ihrer Familie ins Ruhrgebiet. Seither nützt er jede Minute, die er nicht musiziert, um zu schreiben.
Mozart und Bach machen Fehler, Moondog macht keine
Die Vielseitigkeit von Moondog ist faszinierend. Auf der einen Seite ist er offen für jeden denkbaren musikalischen Einfluss, auf der anderen Seite ist niemand so strikt wie er. Für Moondog zählt nur der Kontrapunkt. Er sieht sich als Komponist in der Tradition der grossen Klassiker. Er schätzt Bach, Mozart, Beethoven und Schubert. Stockhausen oder Cage existieren für ihn nicht. Sie passen nicht in sein musikalisches Konzept. Sein Konzept: der Kontrapunkt, jenes komplizierte Regelwerk aus dem 17. Jahrhundert, das die wohltemperierte, harmonische Musik garantiert und jeden Missklang ausschliesst.
Moondog behauptet von sich, der einzige Komponist zu sein, der die Regeln des Kontrapunkts nie bricht. Sein wichtigstes Vorbild heisst Johann Sebastian Bach, aber auch Bach hat Fehler gemacht ... Ich fragte ihn: "Moondog, klingt das nicht ein wenig arrogant? Mozart und Bach haben Fehler gemacht, aber du nicht?" Moondog antwortete: "Ich habe viel Zeit, meine Fehler auszumerzen. Bach hatte diese Zeit nicht. Zu viele Kinder ..."
Moondog war zeit seines Lebens kein Popstar. Aber er war eine Figur, die seit den späten vierziger Jahren ungeheuren Einfluss auf die Musikwelt hatte.
Die Mimimalisten: Steve Reichs Platte "drumming" ist Moondog schon in der Instrumentierung ähnlich. Sie beginnt mit Perkussion (wie Moondog), fährt fort mit Marimba (Moondog verwendet immer Marimba), es folgt Glockenspiel (wie Moondog schon 1956). Ich kann mir kaum einen Minimalisten ohne Moondog vorstellen. Auch Philip Glass ist ein grosser Moondog-Verehrer. Er hat den alten Herrn im letzten Jahr nach Brooklyn eingeladen, damit er auf seinem Festival auftrete.
Die Folk-Musik: "The Pentangle" nahmen ein Stück von Moondog auf. "The Band" spielte "Moondog Serenade".
Der Rock'n' Roll: Die erste Rock'n'Roll-Radiosendung - als der Rock'n'Roll noch gar nicht Rock'n'Roll genannt wurde - hiess "Moondog Matinée".
Der Jazz: Charlie Parker wollte eine Platte mit Moondog aufnehmen. Er starb, bevor es soweit war. Moondog schrieb nach Parkers Tod die Nummer "Bird's lament".
Die Studioarbeit mit Moondog war für mich eine Tortur. Dieser Kontrapunkt. Nie war Moondog zufrieden. Für mich stimmte ein Stück, wenn die Emotion stimmte, aber Moondog widersprach. Er kam mit Noten an, was ich zu singen hätte, und ich konnte keine Noten lesen. Wir lösten das Problem so: Die Gambe spielte die Singstimme, und ich lernte sie auswendig (so bereiten wir auch gerade unser gemeinsames Konzert in Winterthur vor).
Der Nebeneffekt von Moondogs Brüssler Studiobesuch war, dass er den Computer kennenlernte. Mein 16-Spur-Musikcomputer, der unbeachtet in einer Ecke stand, funktionierte, wie Moondog Musik schreibt: Beim kontrapunktischen Komponieren werden Stimme, Gegenstimme, Harmoniestimme hintereinander aufgeschrieben wie bei mehrspurigen Aufnahmen. Ideal für Moondog. So entstand "Elpmas", seine letzte Plattenproduktion.
Das nächste Mal trafen wir uns vor einem Jahr in Frankreich. Ich machte fürs französische Fernsehen eine Sendung mit Frédéric Mitterrand und brachte Moondog und den Designer Philippe Starck, der für meine erste grössere Frankreich-Tour das Dekor gemacht hat, ins Studio mit. Philippe war ungeheuer berührt. Moondog war sein Held der sechziger Jahre! Er beschloss spontan, ihm ein Geschenk zu machen: Er gab einem Haus, das er gerade in Tokio baute, den Namen "Moondog Building".
In dieser Sendung sangen wir zum ersten Mal Moondogs Lied "Paris, Paris". "Paris, Paris" hat alles, was ein Hit braucht. Wenn du das Stück einmal gehört hast, geht es dir nicht mehr aus dem Kopf. Es strahlt ungeheure Fröhlichkeit aus, echte, nicht diese oberflächliche Radiosprecherfröhlichkeit. Wie Steve Martin, der Banjo spielt. Du kannst nicht mehr traurig sein, wenn du "Paris, Paris" einmal hörst.
Wenn ich reich bin, kaufe ich mir eine Burg im Schwarzwald
Ich sagte zu Moondog: "Mit diesem Lied werden wir ungeheuer reich. Was kaufst du dir?" Moondog antwortete: "Eine Burg im Schwarzwald. Dann ziehe ich wieder meine Wikingerkleider an. Wir beide kaufen uns zwei Pferde und leben dort."
Das war kein Scherz. Moondog hat mit seinen 76 Jahren noch Träume und eine kindliche Naivität, die nichts unmöglich sein lässt.
Wir sassen mitten in Paris und assen zu abend. Draussen hörten wir Pferde. Es war die Ehrengarde für die britische Königin, die die Stadt besuchte.
"Moondog", scherzte ich, "es wäre toll, wenn auch wir zwei jetzt die Camps-Elysées hinunterreiten könnten."
Gegen fünf Uhr fragte Moondog: "Wann kommen endlich die Pferde?" "Gar nicht. Die Strasse ist für die Queen gesperrt, und wenn sie wieder offen ist, fahren Tausende Autos." "Die Königin stört mich nicht. Lass uns reiten."
Moondog ist eben high. Aber er ist, auch wenn er in seinen seltsamen, avantgardistischen Kleidern so aussieht, kein Drogenkonsument. Er ist "high on life". Er sagt: "Man kann den Mount Everest mit Händen und Füssen besteigen oder mit einem Helikopter. Ich ziehe Hände und Füsse vor."
Martin Hess, mein Manager, und ich dachten schon lang über die Möglichkeit einer "Moondog-Platte" nach. Als wir zum ersten Mal im Kursaal von Engelberg arbeiteten, dachten wir: Das ist der Ort, wo man Moondog aufnehmen muss. Dann luden uns die Winterthurer Musikfestwochen ein, mit Moondog und dem Winterthurer Symphonieorchester aufzutreten. Perfekt. Wenn das Konzert befriedigend ist, werden wir daraus eine Platte machen.
Moondog schreibt spezielle Sachen für Winterthur: einen Kanon für vier Alphörner, eine Orchesterfassung des Guggisberg-Liedes. Ich werde einige Lieder mit ihm singen, dazu die Tambura spielen, ein indisches Saiteninstrument. Ich hab das Instrument noch nie gesehen, aber Moondog sagt, es sei sehr einfach.
Die Wahrheit: Moondogs Musik ist ausgesprochen komplex. Schon die Rhythmik. Rock'n'Roll besteht aus geraden Takten, in die sich hie und da ein Dreivierteltakt mischt. Aber Moondog schreibt 5/4-, 5/6-, 4/5-Takte. Mörderisch! Eigentlich müsste ich mich für das Konzert krankschreiben lassen.
Aber diese Musik. Sie ist eine Essenz aus allem, was die Welt zu bieten bat. Moondog kann destillieren. Auch wenn seine Musik kompliziert ist, kannst du sofort mitpfeifen. Denn während im Jazz oder der Neuen Musik oft nur der Intellekt spricht, steckt in Moondogs Kompositionen das, was sonst nur die Volksmusik besitzt. Herz, Seele und das Gefühl unbestimmter Vertrautheit.
Moondog, der Magier, wird nächste Woche in die Schweiz kommen. Er hat mir gesagt, dass er die Alpen sehen will und in Engelberg den "Alphorn-Bird" hören.
Welchen Vogel?
Ich kenne ihn auch nicht. Aber ich werde ihn für Moondog finden.