Bei vielen Besuchern der Recklinghäuser Innenstadt wird die Erinnerung an die unlängst vor der "Alten Apotheke" an der Breiten Straße mächtig aufragende Gestalt eines weißbärtigen alten Mannes in selbstgenähter Wikingerkleidung und mit einem Speer in den Händen bewehrt lebendig sein. Bei diesem Manne handelt es sich um den blinden Dichter und Komponisten Moondog, der eigentlich Louis Hardin heißt und aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu uns kam, um hier in Deutschland, der Heimat seiner Mutter, seinen Lebensabend zu verbringen.
Moondog wurde am 26. Mai 1916 zu Marysville (Kansas) geboren. Sein Vater war Missionar der protestantischen Episkopalkirche und seine Mutter Lehrerin. Das berufliche Wirken des Vaters brachte es zwangsläufig mit sich, daß Moondog schon in seiner Kindheit und frühen Jugend häufig den Wohnort wechseln mußte. So lebte er außer in seinem Geburtsstaat Kansas später auch noch abwechselnd in den Staaten North Carolina, Wisconsin, Wyoming und Missouri. In Hurley (Missouri) verlor Moondog im Jahre 1932 mit sechzehn Jahren durch eine Dynamit-Explosion sein Augenlicht. Seit dem Jahre 1933 besuchte er in St. Louis (Missouri) die Blindenschule und erlernte dort die von Louis Braille, einem Blindenlehrer und Kirchenorganisten, geschaffene sechspunktige, international gebräuchliche Blindenschrift. In der Blindenschule von Iowa City (Iowa), die er danach besuchte, machte Moondog seinen High-School-Abschluß. An dieser Blindenschule hörte er zum ersten Male die ihn nachhaltig beeinflussende klassische Musik, und hier erhielt er auch den ersten gründlichen Unterricht für Violine, Bratsche, Klavier, Orgel sowie in Harmonielehre. Später bekam Moondog für einige Zeit ein Stipendium an der Musikhochschule in Memphis (Tennessee). Dennoch empfing er den größten Teil seines musikalischen Wissens durch ein sehr fleißiges Selbststudium. Seit dem Jahre 1943 lebte er - abgesehen von einigen mehr oder weniger langen zeitlichen Unterbrechungen - in New York, bis ihn der Weg nach Deutschland, zuerst nach Hamburg, dann nach Recklinghausen und schließlich nach Oer-Erkenschwick führte.
Den symbolischen Namen "Moondog" führt Louis Hardin seit dem Jahre 1947. Dieser Name geht auf seinen Hund zurück, den er in der ersten Zeit seiner Blindheit besaß. An diesen Hund erinnert sich Moondog, daß er mehr als jeder andere Hund den Mond in den Mondnächten anheulte. Mit der Annahme des Namens "Moondog" folgte er uralten indianischen Bräuchen, zumal er zu jener Zeit sehr enge Beziehungen zu Indianern pflegte, von deren Lebensweisheit er sich stark angezogen fühlte. Diese Weisheit hat ihren Ursprung in der vom Glauben an Visionen und persönliche Schutzgeister sowie an Naturzauberkräfte erfüllten indianischen Mythologie.
Moondogs musikalisches Schaffen steht ganz in der Tradition der Klassik, ohne daß er sich hierbei als "Neoklassiker" in eklektizistischem Sinne empfindet. Er versteht die Klassik als das Mustergültige schlechthin, er sieht die Klassik als Erstrangigkeit aus dem Anspruch nach Vollkommenheit, welche Allgemeingültigkeit, gestraffte formale Ordnung, Harmonie, Ebenmäßigkeit, Schönheit, Aufhebung des Besonderen im Typischen und Normativen, Einklang zwischen dem Leiblichen und Geistig-Seelischen ohne irgendwelche Gegensätzlichkeit zum wertbestimmenden Maßstab nimmt.
Eine ganz besondere Aufmerksamkeit verdienen Moondogs Arrangements klassischer Werke im Jazzstil. Sie offenbaren im Ergebnis Improvisationen von originellem Eigenstil und persönlicher schöpferischer Leistung durch einen tiefgreifenden Vollzug der Vereinigung exzellenten technischen Könnens mit individuellem Seinserlebnis. Moondogs Formen, denen er in seinem musikalischen Schaffen den Vorzug gibt, sind Kanons und Chaconnes.
Bei den Kanons handelt es sich um eine kontrapunktische Form, die durch eine streng durchgeführte Wiederholung der Melodie in einer zweiten Stimme und in weiteren Stimmen, die in einem bestimmten Zeitabstand nacheinander einsetzen, gekennzeichnet ist.
Chaconnes (französisch) oder Ciacone (italienisch) sind hingegen Instrumental- oder auch Vokalsätze in dreiteiligem Takt, mit Variationen über einer immer wiederkehrenden 4- bis 8taktigen meist fallenden Baßlinie.
Von den zahlreichen musikalischen Werken Moondogs mag hier sein zur Zeit in Entstehung befindliches und voraussichtlich im Herbst dieses Jahres aufführbereites Hauptwerk "The Creation" (Die Schöpfung) besonders hervorgehoben werden, weil es in seiner Konzeption als "Sound Saga for Orchestra and Organ" (Tonerzählung für Orchester und Orgel) streng auf der Grundlage der Tonalität und der Gesetze des Kontrapunktes entgegen den heute vorherrschenden Strömungen sein von innen her geschautes archaisches Weltbild klanglich zu schildern versucht.
Moondogs Inspirationen in "The Creation" sind zutiefst dem Glaubensgut der Germanen verhaftet, sie rufen die jenseits rational-kausaler Erklärung in Versunkenheit geratene germanische Götter- und Mythenwelt wieder ins lebendige Bewußtsein zurück, sie öffnen den Blick in den Urgrund des Seins, in Chaos und Nacht. Hier nimmt, wie schon die älteste mythische Offenbarung der Griechen verkündete, die Geburt der Welt und des Menschen durch schaffende und ordnende Mitwirkung der selbst aus ihnen hervorgegangenen Götter ihren Anfang. Moondog folgt den Spuren der Welt- und Menschwerdung sowie der Vergänglichkeit alles Seienden jedoch nicht nur klangschöpferisch, sondern auch in seinen Dichtungen, die dem Wunder der Schöpfung huldigen, wie beispielsweise in dem inhaltlich und formal den Eddaliedern verwandten Gedicht "Die Erschaffung", von dem die letzte Strophe hier für die erstaunliche Gedanken- und Sprachkraft Moondogs zeugen soll:
Sie empfingen die Gabe des Lebens mit Dankbarkeit,
als Odin und seine Brüder Abschied nahmen von Midgard.
Allein gelassen, sahen sich die beiden in die Augen,
und Notwendigkeit ließ die Liebe entstehen.
Sie lehrten ihre Kinder alle Götter zu verehren,
und sie taten es, bis durch Verrat und Gewalt das
Geschlecht der Germanen verführt wurde, fortgetrieben
von dem Weg, dessen windungsreiches Band in die fernste
Vergangenheit reicht, als Geschlecht und Glauben eins waren;
denn als der Weg dieser Einheit erst verloren war,
war auch das Geschlecht verloren.
Der Weg! Wo ist der Weg?
Die Edda hat ihn. Findet ihr ihn selber.
Auf der gleichen hohen geistigen Ebene wie die Tonschöpfung "The Creation" oder das Gedicht "Die Erschaffung" liegt das sehr zuchtvoll und konturenreich angelegte "Logrundr Book 1 for Organ" (Logrundr-Buch 1 für Orgel). Die in diesem Buche enthaltenen Orgelstücke sind der reinen Helle des Lichtes gewidmet, genauer gesagt, ihrem Geheimnis. In ihnen wechseln einander zauberhaft zarte lyrische Stimmungen mit der stürmisch bewegten Entfesselung der Lichtgewalt ab. Moondog führt uns im "Logrundr Book" von den Ersatzgöttern der Kulturindustrie wieder zurück zur Idealität des unverfälschten Andachtsgefühls, ohne das geistige Blickfeld einzuengen oder etwa durch sentimentales und triviales Pathos zu überanstrengen. Die Dichte der in strengen Umrißlinien gestalteten Orgelstücke ist Ergebnis einer systematischen Befragung der ihnen im einzelnen jeweils zugrunde liegenden Themata. Jedes einzelne Orgelstück ist eine intensive ästhetisch-religiöse Beschwörung, ohne der Wirklichkeit den Rücken zu kehren und durch intellektualistische Abstraktion und Transzendierung unwahrhaftig zu werden, und jedes einzelne Orgelstück hinterläßt eine vibrierende Betroffenheit über die Totalerfahrung der Spiritualität des Lichtes.
Moondogs dichterische und musikalische Werke sind seherische Offenbarungen von seltener Ausdrucks- und Eindruckskraft. Nicht von ungefähr vergleicht ihn die Universitätszeitung der University of Wisconsin in Madison am 31. August 1972 mit Tiresias, dem - nach der griechischen Mythologie - blinden Seher aus Theben, der nach der Odyssee als einziger Schatten in der Unterwelt Bewußtsein bewahrt hatte und Odysseus weissagte. Moondogs Erkenntnis von der Gefahr und Chance der Welt gründet auf seiner meditativen Betrachtung der Geschichte als Wahrheit der Weltbewegung durch Leben, Ereignis und Geschehen. Auf der Suche nach dem Sinn des Seins legt Moondog heilsame Worte und Töne auf die schwärenden Wunden der Menschheit, die er durch ihre natürlichen Existenzbedingungen in den Möglichkeiten zur Erlangung eines kritischen Bewußtseins nicht ohne Mitleid beschränkt sieht. Seine Vorstellungszusammenhänge ermöglichen erst durch ihre Verknüpfung mit den geschichtlichen Überlieferungen ein praktisch brauchbares Weltverständnis. Die Labilität der Menschen ist für ihn keine Ausnahmeerscheinung, sondern die unabweisbare Regel, welche die menschliche Verhaltensweise bestimmend beeinflußt. Diese Weisheit hat nicht zuletzt in den Kanons "Spruchweisheiten aus aller Welt" ihren künstlerischen Niederschlag gefunden. So finden wir unter den 18 Kanons bekannte und unbekannte Spruchweisheiten aus allen Erdteilen, die durch ihre verdichtete Aussage geschichtlicher Erfahrungen mit der aus ihnen gewonnenen Nachsicht Welt und Menschheit ein wenig erträglicher zu machen. Moondogs Künstlertum hat eine tröstliche Ausstrahlung von Menschlichkeit und Religion, sie stellt einen missionarischen Aufbruch in das Spannungsfeld irdischer Ängste und Hoffnungen dar, um seinen künstlerischen Auftrag im Dienste des geschichtlichen Erbes mit dem nötigen Spürsinn für die brennenden Fragen von Sein und Zeit wirksam zu erfüllen.
Notenausgaben
Spruchweisheiten aus aller Welt
18 Kanons für 2 bis 7 Stimmen und Schlagzeug
ERES 2314
Verlag: ERES EDITION, D-2804 Lilienthal/über Bremen
(Eine Schallplatte mit einer Auswahl dieser Kanons ist beim Verlag ERES EDITION geplant.)
Music for Little Hands
a) Jazz Book 1 (Jazz-Buch 1)
for Keyboard (für Tasteninstrument)
Verlag: managarm Ilona Goebel, D-4353 Oer-Erkenschwick
b) Troubadour Harp Book 1
(Troubadour-Harfen-Buch 1)
pieces in the Greek Modes for harp or keyboard
(Stüdte in griechischen Tonarten für Harfe und Tasteninstrument)
Verlag: managarm Ilona Goebel, D-4353 Oer-Erkenschwick
Schallplatten
Moondog
Phonodisc Columbia MS 7 335 (stereo), 1969
Moondog II
Phonodisc Columbia KC 30 897 (stereo), 1971
Moondog Matinee
Phonodisc Capitol SW 11 214, 1973
Moondog in Europe
(In Vorbereitung)
Viking I
(In Vorbereitung)