Vorbemerkung: Diesen Aufsatz hat uns dankenswerterweise Prof. Dr. Paul Jordan zur Verfügung gestellt. Er trägt das Datum 20. November 1972 und wurde abgefaßt im Rahmen der Bemühungen des Verfassers, dem damals in Europa noch völlig unbekannten Moondog eine Konzerteinladung durch den Hessischen Rundfunk zu verschaffen. Bekanntlich waren diese Bemühungen erfolgreich, und es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in diesem Aufsatz einen Hauptauslöser für die entscheidende Wende im Leben des Louis Hardin sieht.

Paul Jordan

"Moondog" - Komponist für die Jugend?


"Es lebt in Amerika ein Mensch," soll einmal Arnold Schönberg epigrammatisch gesagt haben. Er sprach dabei von dem Komponisten Charles Ives, einem amerikanischen Original, der als Neu-Engländer tief im "Transzendentalismus" von Emerson und Thoreau verwurzelt war; Ives hatte dennoch bereits am Anfang unseres Jahrhunderts amerikanische Volks-und Kirchenmelodien sogar sentimentalster Art "revolutionär" mit kühnen und oft scheinbar beziehungslosen Dissonanzen verfremdet. Vor 20 Jahren schon starb Charles Ives - ebenso lange ist auch Arnold Schönberg tot. Nun fragt es sich, ob es im Sinne des Schönbergschen Ausspruchs in Amerika noch oder wieder einen "Menschen" gibt, das hieße: jemanden, vielleicht auch einen Musiker, der unverkennbar amerikanisch in Herkunft, Lebensweise und Schaffen, zugleich auch menschlich bedeutend, und im weitesten Sinne "originell" wäre. Für viele ist in der Tat diese Frage schon positiv beantwortet, wenn sie auf den Straßen der Stadt New York auf den merkwürdig gekleideten, großen, bärtigen, freundlichen und blinden Bettler, der sich "Moondog" (also Mondhund) nennt, aufmerksam geworden sind - zumal wenn sie sich nach der Begegnung mit ihm die Mühe gemacht haben, die kleinen, im Selbstverlag gedruckten und von ihm verkauften Partituren näher zu betrachten.

Vom Musikalischen her betrachtet, erfordert das Phänomen "Moondog" freilich eine Umdeutung der gängigen Auffassung von "Originalität". Denn es gibt in seinem Schaffen keinen einzelnen Grundzug, der als "revolutionär" zu bezeichnen wäre, wie etwa kühne oder scheinbar beziehungslose Dissonanzen in der Art eines Charles Ives. Im Gegenteil, das Originelle, das sogar sehr Originelle, das Moondogs Schöpfungen innewohnt, entsteht allein aus der eigenartigen "Verschachtelung" von schon dagewesenen und sogar allgemein zugänglichen Elementen. Dementsprechend sieht sich Moondog selbst als Konservativer, als "Klassiker", gar als Verteidiger der Tonalität - samt ihren seiner Ansicht nach noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten - gegen alle Formen der Atonalität, Bitonalität, Polytonalität, und der "Viertelton"-alität. Dazu vertritt er mit fester Überzeugung jene "Regeln" des strengen Kontrapunkts, die, wenn auch zum Teil erst nachträglich aus dem Studium alter Werke abstrahiert, heute doch weitgehend unser Verständnis vom Stil großer Renaissance-Musiker wie Palestrina und Josquin bestimmen. Im Sinne also der Tonalität und der strengen Satzweise ist für Moondog der Bereich des Klassischen - wie er es einmal ausgedrückt hat - "weder alt noch neu, sondern eine konstante Möglichkeit." In ähnlichem Zusammenhang sagt er, in einer für ihn charakteristischen Metapher, der Klassizismus könne als eine große Pfütze angesehen werden - ihm sei es recht, in dieser Pfütze ein kleiner Frosch zu sein; wobei er es gelassen dann dem Ablauf der Zeit zugesteht, über seine relative Größe ein Urteil zu fällen.

Wenn also Moondog noch mit rigoroser polyphoner Stimmführung und tonalen Harmonien komponiert, wie ist dann die für heutige Ohren doch bestechende Originalität seiner Werke zu erklären? Seine Musik bewegt sich, wie seit dem 14. Jahrhundert die abendländische überhaupt, stets zugleich in den drei Dimensionen des Rhythmus, der Melodie und der Harmonie. Wiewohl er formal innerhalb der Grenzen althergebrachter strenger Gattungen wie Kanon und Chaconne sich hält und wohlfühlt, so bringt der intervallische Aufbau seiner Melodik eine ihm ganz eigene Mischung von oft volksliedhafter Schlichtheit und Symmetrie mit exotisch wehmütigen oder humorvoll-pikanten "Blues"-tönen und anderen aus der heutigen Jazz-und Pop-Welt herrührenden Abweichungen vom Nur-Volksliedhaften oder auch von der reinen Modalität eines Palestrina. Solche Abweichungen prägen wiederum eine Harmonik, deren orthodoxe Funktionalität mit besonderen Moondog-spezifischen Ausdrucksfärbungen einhergeht. Schließlich kommt in zweifacher Weise die rhythmische Dimension zu besonderem "Schwingen": zunächst auffallend, in den komplexen, eher aus Afrika als vom Westen her-"wehenden" Schlagzeugbegleitungen einer großen Zahl seiner Werke, die auch meistens von ihm selbst auf eigenst erfundenen Instrumenten, wie z.B. einer dreieckigen Trommel, musiziert werden; zweitens, bei näherer Betrachtung vielleicht noch wichtiger, in der Tatsache, dass seine reine Polyphonie oft ganz im Banne von exotischen Taktstrukturen wie z.B. 5/8 oder 7/2, und dazu noch mit kühnen Synkopen, sich zusammensetzt und entfaltet. Diese "Verschachtelung", d.h. eine solche Kombination von Renaissance-Kontrapunkt mit exotischer Melodik, romantischer und populärer Harmonik, und außerdem noch jazz-derivierter bzw. selbst erarbeiteter rhythmischer Struktur und Instrumentation, ist eben noch nie da gewesen. Dabei klingt diese Musik nicht eklektisch oder inkonsequent, sondern die verschiedenen Elemente haben sich durch die integre Persönlichkeit dieses Künstlers zu einer überzeugenden Synthese auf neuer Ebene zusammengefügt.

Welche Erfahrungen haben diese Persönlichkeit geprägt? Louis Hardin - so heißt Moondog in Wirklichkeit - wurde 1916 als Sohn eines Pfarrers anglikanischer Konfession im Städtchen Marysville im Staate Kansas geborene Seine mütterliche Familie soll übrigens aus dem Schwarzwald stammen. Bald zog die Familie Hardin zum fernen Westen, nach Wyoming, wo der junge Louis zu seiner ersten Schule, einem Blockhaus, zu reiten hatte. Als er 13 war, kehrten seine Eltern zum Mittel-Westen zurück, diesmal nach Hurley, Missouri. Dort spielte er im Schulorchester die Trommel. Als Louis 16 oder 17 war, befand er sich einmal unbeabsichtigt in der Nähe einer Dynamit-Explosion, die ihm das Augenlicht nahm. In besonderen Schulen in Missouri und Iowa lernte er die Blindenschrift, hörte zum ersten Mal klassische Musik, und bekam Unterricht in Geige, Klavier, Orgel, Gesang und Musiktheorie. Seine Begabung erregte Aufsehen, so dass er ein Stipendium erhielt, um in Memphis, Tennessee, sich fortgeschrittenen Studien zu widmen. 1943 fuhr er nach New York, wo er gelegentlich die Freude hatte, der Probenarbeit von führenden Musikern wie Artur Rodzinsky, Leonard Bernstein, und Arturo Toscanini beizuwohnen. Zu einer normalen Berufsausübung auf musikalischem oder anderem Gebiet scheint dieser blinde Künstler jedoch nie gekommen zu sein. Im Anschluss an die formelle Schulung aber betrieb er nun autodidaktisch weitere musikalische, literarische und geschichtliche Studien. Schon aus erster intensiver Begegnung mit Bachs zweistimmigen Inventionen begann sich sein lebenslängliches Engagement für die Polyphonie zu entwickeln. Der Ausbau seines Geschichtsbewusstseins führte zum Entwurf einer eigenen Tracht, deren nordisches, den Wikingern verwandtes Gepräge seiner inneren Beziehung zur Welt der Ahnen und Ur-Ahnen entspricht. Im Jahre 1947 nahm er den Spitznamen "Moondog" an, im Gedenken an einen Hund in Hurley, Missouri, der, wie er sagt, "mehr als irgendein anderer Hund den Mond angebellt hat." Auch die für ihn charakteristische und weithin bekanntgewordene Lebensweise muss sich in diesen Jahren entwickelt und gefestigt haben.

Vielleicht war Moondog in der Tat so etwas wie der Ur-"Hippie". Seit einem Vierteljahrhundert lebt er vornehmlich, mitunter Monate lang ausschließlich, auf den Straßen der Stadt New York, wo es ihm jetzt noch mit 56 Jahren - körperlich abgehärtet und von der Polizei toleriert - nichts ausmacht, gelegentlich in schlechtestem Wetter unter bloßem "Sternenschutz" auf dem Asphalt zu schlafen. Tagsüber steht dann Moondog als Neu-Wikinger mit cape und Stab, mitten im bürokratischen Gedränge, an bestimmten Lieblingsecken, wo er mit Passanten und vor allem jeden Tag mit zahlreichen neugierigen Touristen aus allen Enden Amerikas und der Welt über Geschichte, Politik und Philosophie witzige und weise Gespräche führt. Am Ende einer solchen Begegnung, bei der er auch gern (auf Fragen hin) freimütig seine eigene Geschichte und Lebensweise erklärt, macht er oft, wiewohl nicht immer, dem Gesprächspartner ein Angebot, als Souvenir oder Andenken zu günstigem Preise etwas mitzunehmen. Denen, die an Musikpartituren weniger Interesse haben, bietet Moondog andere Früchte seiner Fantasie an, Sammlungen von Hunderten von prägnanten Aphorismen etwa, oder einen nützlicher Kalender der gesamten Neuzeit bis weit in die Zukunft hinein, unter Umständen auch Manuskripte von Gedichten und Schauspielen. Wenn er gerade keinen Besucher hat, übt er jene ungeheure Konzentration aus, durch die er es fertig bringt, mitten im wohl lautesten Straßen-Verkehr der Welt an intimen oder epischen musikalischen Strukturen eine geistige Feilarbeit bis hin zur feinsten Ausgewogenheit aller Teile durchzuführen. So entstanden schon Hunderte von Werken. Erst wenn er eine ganze Komposition im Kopfe vollendet hat, notiert er sie in musikalischer Blindenschrift mit Hilfe eines kleinen Knipsers, den er in seinem großen Sack immer bei sich trägt. Oft dauert es Monate, bis er jemanden findet, der Lust und Zeit hat, die neue Schöpfung dann in allgemein lesbare Notation zu übertragen. Zu Aufführungen oder gar Aufnahmen kommt es überhaupt nur sporadisch, meistens dann auch durch solche Musiker oder - wie erst in den letzten zwei Jahren - Schallplattenfirmenvertreter, die er im Glücksfall ebenso auf der Strasse einmal trifft.

Die Hauptgattungen der Moondogschen Musik sind Orchesterwerke, Klavier- oder überhaupt Tastatur-Werke, und Kammermusik (meistens für Vokalensemble). Eine große Oper ist seit einiger Zeit in Arbeit. Die Orchesterwerke zeigen in der Harmonik den stärksten Einfluss aus dem 19. Jahrhundert (was bei dieser Gattung naheliegt), in der Instrumentation und Melodik aber einen besonders klaren (wiewohl durchsublimierten) Bezug zum Jazz. Hier gibt es u.a. eine "Ode an die Venus" (in der Form eines großangelegten 12-stimmigen Kanons), eine Benny Goodman gewidmete "Symphonique", und eine Lamentation zum Tode von Charlie Parker, der auch öfters Moondog die Hand geschüttelt hatte. Die Werke für einzelne Instrumente fallen in drei Hauptgruppen; die "Kunst des Kanons" in zwei Bänden mit je 25 zwei-stimmigen Stücken in allen Dur- und Moll-Tonarten, für beliebige Tasteninstrumente; die Kanons und Chaconnes für Troubadour-Harfe, und "der große Kanon", ein Klavierwerk von etwa 20 Minuten Länge und einigem Beethoven-Bezug (nicht nur im Titel)! Die wohl bisher umfangreichste Gattung bilden aber die vielen und ständig anwachsenden Sammlungen von Moondogs "Madrigalen"; jeder Band - und es gibt schon mehr als 11 davon - besteht aus 25 Kanons, in allen Tonarten, für drei bis sieben Stimmen. Hier zeigt sich am stärksten der musikalische Bezug Moondogs zur englischen und kontinentalen Renaissance, ohne dass aber die anderen für ihn charakteristischen Merkmale fehlten. Diese Madrigale eignen sich zur Aufführung als Kammermusik in den verschiedensten vokalen und vokal-instrumentalen Kombinationen. Interessant ist, dass Moondog die Texte, die rein weltlich sind, alle erst nach der Musik, dann aber eben spezifisch für die jeweilige Komposition erfindet. In ihrer Lebensfreude, ihrem sanften Humor, ihrer weisen Jugendlichkeit und den oft treffenden Pointen bilden sie eine Einheit mit der Gedanken- und Erfahrungs-Welt seiner Aphorismen.

Die hell-rationale und zugleich warme Menschlichkeit eines Individuums, das - ein schweres Handicap überwindend - den Mut zu eigener Lebensgestaltung fand und nach halbem Jahrhundert vornehmlich im Hier und Jetzt noch lebt; die so hohe geistige Disziplin harmonierend mit erdennaher Lebensbejahung; das sind Hauptzüge des Menschen "Moondog", die seine Musik durchdringen und ihr vor allein für die heutige Jugend eine besondere Anziehung verleihen.

Freiburg, den 20. November 1972