Musiker bewundern ihn, Aufnahmen seiner Werke sind rar und ein Vermögen wert: Der blinde Komponist MOONDOG ist eine Legende und galt jahrelang als verschollen. Jetzt gibt es drei neue Platten von ihm - und ein Konzert in der Londoner Royal Symphony Hall
Louis Thomas Hardin nennt sich Moondog, ist 74 Jahre alt und führt ein diszipliniertes Leben. Er ernährt sich von Knäckebrot und Graupensuppe, trinkt am liebsten lauwarmes Wasser und kommt mit drei Stunden Schlaf aus. Die übrige Zeit gehört der Musik: "Wahrscheinlich bin ich der konservativste lebende Komponist. Ich arbeite absolut tonal, nach den unabänderlichen Gesetzen des Kontrapunktes. Diese Strenge ist unabdingbar, um ästhetisch zu überzeugen."
Moondog ist eine lebende Legende: Dave Brubeck ließ sich zu seinem Klassiker "Take Five" von dessen eigenwilliger Rhythmik inspirieren; Frank Zappa ist seit langer Zeit eingeschworener Fan, ebenso wie Bob Dylan und Joan Baez, Philipp Glass, Steve Reich und Tom Waits. Benny Goodman und Charlie Parker zählten zu seinen größten Bewunderern. Alte Platten von Moondog sind hochbezahlte Raritäten, die von ihren Besitzern allenfalls auf Band kopiert, nie jedoch aus der Hand gegeben werden. Dieser Mann ist ein Phänomen. Sein Lebensweg ist krumm, voller Ungereimtheiten und Dickschädeleien: Aufgewachsen auf einer Ranch in Kansas, bringt ihn sein Vater, ein Pfarrer, schon früh in Kontakt mit indianischer Musik und ihren hypnotischen Rhythmen. "Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich auf dem Schoß eines Kriegers saß und seine Trommel schlagen durfte. Diese Beats haben mein ganzes musikalisches Denken beeinflußt." Mit 16 Jahren durch eine Explosion erblindet, wendet sich Louis Hardin ganz der Musik zu. Er besucht diverse Konservatorien und erhält eine Ausbildung in klassischer Kompositionstechnik.
1943 zieht es Moondog nach New York. Dort liest er die "Edda", eine Sammlung von Liedern und Heldensagen der altnordischen Mythologie. Diese Lektüre fasziniert den mittel- und obdachlosen Tonsetzer so sehr, daß er auf die Idee verfällt, seine Songs auf der Straße vorzutragen und dabei die Gedichte zu verkaufen, die er zusammen mit seinem Freund Allen Ginsberg schreibt - täglich, Ecke 54. Straße/6th Avenue. Moondogs Markenzeichen sind sein Wikingerhelm, sein Normannenspeer und sein langer weißer Rauschebart. Der schrullige Künstler ist einmalig. Ganz New York kennt ihn, bei Stadtrundfahrten wird er als Attraktion gewürdigt, und das Hilton gibt in einer Werbung als Adresse an: "Das Hotel liegt gegenüber von Moondog." Beinahe dreißig Jahre führt Moondog sein heimatloses Straßenleben; eigenartig, einzigartig, immer kreativ. Schließlich - im Jahr 1974 - folgt der 58jährige einer Konzerteinladung nach Frankfurt. Dies ist die Wende in Moondogs Leben. Denn der gestrenge Komponist, der das rastlose Leben eines späten Beatniks führt, findet seine neue Heimat. Und die 23jährige Ilona Goebel. Die Studentin überträgt sein musikalisches Oeuvre aus der Blindenschrift auf Notenblätter, wird seine Managerin und holt ihn in ihr Elternhaus nach Oer-Erkenschwick, einem kleinen Ort am nördlichen Rand des Ruhrgebiets. "Ins Paradies", sagt der alte Mann mit der kraftvollen Stimme eines Mittzwanzigers. In der deutschen Provinz widmet sich der Tonschöpfer ganz seiner Arbeit. Moondogs Musik könnte als eine Mischung aus klassischer Tonalität, indianischer Rhythmik und naiven Melodien beschrieben werden. Wunderbare Leichtigkeit und kinderliedhafte Schlichtheit verbinden sich in seinen himmlischen Symphonien, Chaconnes, Madrigalen und Streichquartetten. In seinem Heimatland Amerika gilt der konservative Avantgardist als verschollen und wird von vielen tot geglaubt. Nach jahrelanger Recherche und detektivischer Spürarbeit machen ihn seine Bewunderer schließlich im Herbst '89 ausfindig. Beim "New Music America"-Festival führt das Brooklyn Philharmonic Orchestra mehrere Moondog-Werke auf. Sein Comeback ist triumphal. Endlich ist Moondogs Musik auch in Deutschland wieder auf Platte erhältlich: Das Bochumer Label Roof Music hat gerade in limitierter Auflage eine exzellente 3-CD-Box namens "Tonality All The Way" (Aris) veröffentlicht. Und im September wird Moondog in der Londoner Royal Symphony Hall einen Auftritt mit dem englischen Bassisten Danny Thompson absolvieren: Die Uraufführung seiner Symphonie Nr. 73 in C-Dur dürfte ein Leckerbissen sein.