Was tun wir nicht alles, um uns vor der zwingenden Einsicht ins Leben zu schützen: Wir erfinden die Vernunft, hegen und pflegen sie, verteidigen sie mit Zähnen und Klauen gegen jedweden Angriff sogenannter Irrationalisten. Und doch kapitulieren wir immer wieder vor dem unauflösbaren Paradoxon. Ob wir nun in die Zukunft sehen und uns dort nur die Vergangenheit entgegenlächelt, oder ob wir in alter Zeit die Moderne aufspüren: Je weiter ein Künstler außerhalb seiner Zeit steht, desto sicherer wird ihm plötzlich in einer anderen ein Platz zugewiesen.
Man bezeichnet den Komponisten Louis Hardin alias Moondog heute gern als Vorläufer der Minimalisten, weil Phil Glass oder Terry Riley sich von ihm beeinflußt fühlen, oder als Vorläufer der neuen Tonalität, gar als frühen Vertreter des New Age. Und da ist sie wieder: die vernünftelnde Suche nach Ursprüngen, Teleologien und logischen Gesetzmäßigkeiten. Dabei macht die Qualität Moondogs nicht aus, was ihn jenen so ähnlich macht, sondern was ihn von ihnen unterscheidet. Er sucht keine neue Form, er nähert sich vielmehr den alten Formen an und betrachtet sie, als wären sie neu; weder fühlte er sich irgendeiner Schule oder Szene zugehörig, noch hatte er je das Bedürfnis, selbst eine zu gründen. Er verwirklichte in seiner Musik und in seinem Erscheinen einen bedingungslosen Individualismus und unterwarf sich dennoch dem strengen Reglement perfekter musikalischer Formeln. Das Leben als Paradoxon. "Wenn die Regel lautet, daß jede Regel da ist, um gebrochen zu werden, dann breche ich genau diese und sage: Die Regeln dürfen nicht gebrochen werden", sagte er einmal.
Mit dem Bekenntnis zur Form, seinem rigorosen Verfechten der reinen Tonalität, stellte er sich in den fünfziger Jahren außerhalb der Musikszene: sowohl in der E-Musik als auch im Jazz. Sein Auftreten in Wikinger-Kleidung, mit Helm und Speer, tat ein übriges, um ihn in den Stand eines Sonderlings zu befördern. Was nützte letztlich seine Bekanntschaft mit dem Saxophonisten Charlie Parker, den Dirigenten Artur Rodzinski, Arturo Toscanini und Leonard Bernstein oder dem Komponisten Igor Strawinski, wenn es dann doch nur zu kurzfristigen und bescheidenen Erfolgen, sprich Aufführungen und angemessenen Schallplattenproduktionen, führte.
Louis Thomas Hardin wurde 1916 in Maryville, Kansas, geboren. Über seinen Vater, einen Prediger, der häufig in missionarischer Absicht Indianerstämme heimsuchte, kam er als Kind früh in Kontakt mit der indianischer Kultur, ihrer Musik, ihren Mythen. Fasziniert vom Klang der Trommeln, begann er, Schlagzeug zu lernen. Nachdem er mit sechzehn Jahren bei einem Unfall sein Sehvermögen verloren hatte, studierte er an der Blindenschule in Iowa weiter: Violine, Viola, Piano, Orgel. Zudem erhielt er eine Ausbildung in Chorgesang und Harmonielehre. 1943, Hardin war inzwischen 27 Jahre alt, zog er nach New York, wo er hoffte, ein Publikum für seine Musik und seine Gedichte zu finden.
Die Straße schien ihm das geeignete Forum zu sein: Die Stadt lieferte mit ihren Alltagsgeräuschen die Kulisse für seine Lieder, seine kleinen Perkussionsstücke. So entdeckte er auf seine Weise die Lautsphären von Stadt und Natur als musikalisches Moment: Auf seiner Platte "Moondog" verwendet er ausgiebig Umweltgeräusche, skizzenhaft, ein wenig unfertig noch, aber das Bemühen war erkennbar, das "Formlose" zu strukturieren, es in einem musikalischen Kontext zu funktionalisieren. In rascher Folge erschienen zwei weitere Platten, "More Moondog" und "The Story Of Moondog" - alle auf dem Jazz-Label Prestige, wo sie so deplaciert wirkten wie später Frank Zappas Debüt "Freak Out" auf Verve.
Erst 1969 konnte er wieder - diesmal bei CBS und unter wesentlich besseren Studiobedingungen - ein Album veröffentlichen: "Moondog". Diese Platte bietet bis heute den umfassendsten Querschnitt durch das vielfältige Werk Moondogs. Symphonien, auf Miniaturformat reduziert, streng gebaute kammermusikalische Werke, eine Ballettmusik für Martha Graham und Jazz-Stücke, bei denen jede Note, jeder Akzent auskomponiert sind und die dennoch ungemein lebendig, ja fast improvisiert klingen: "Symphonie #6 (Good for Goodie)", eine Hommage an Benny Goodman, und "Lament 1 (Bird's Lament)", ein musikalischer Nachruf auf Charlie Parker, mit dem zusammen er eine Schallplatte aufnehmen wollte. Moondog hatte die Freiheit gesucht, seine Individualität zu verwirklichen, und dabei die geschlossene Form des Kanons, den perfekt konstruierten Kontrapunkt und das Couplet für sich gefunden. "Es gibt etwas in meiner Natur, das am besten in der strengsten Form gedeiht. Und Musik in ihrer strengsten Form ist ein Kanon. Poesie in ihrer strengsten Form ist ein Couplet. Diese beiden Formen sprechen mich am meisten an, da ich eine 'Freiheit in Knechtschaft' habe. Die Begrenzung ist eine strikte Form, und innerhalb der Grenzen besitze ich Freiheit. Nun werden andere Komponisten einwenden: Wenn sie in einer strengen Form schreiben sollen, dann wären sie nicht frei. Ich wiederum fühle mich nicht frei, wenn ich keine Form benutzen kann."
Moondog bekannte sich in diesem Interview aus dem Jahr 1979 zu einem radikalen Klassizismus - aber nur im Hinblick auf die kompositorischen Mittel. Er wollte, und das ist ein weiterer seiner vielen Paradoxa, mit klassischen Mitteln Musik erfinden, die nicht klassisch klingen sollte.
Er, der sich einmal als "Europäer im Exil" bezeichnete, fühlt sich ganz und gar in der europäischen Klassik verwurzelt. Dies irritiert um so mehr, als er immer wieder auf amerikanische Folksongs und Jazz rekurriert oder klassische Formen - wie etwa eine Chaconne - mit indianischen drum beats kombiniert. Als er 1974 vom Hessischen Rundfunk zu zwei Konzerten eingeladen wurde, nahm er die Gelegenheit wahr, gleich in Deutschland zu bleiben. Nachdem er einige Zeit umhergezogen war, landete er schließlich in Oer-Erkenschwick im Ruhrgebiet, wo er heute noch - zurückgezogen, aber nicht minder produktiv - lebt.
Erstmals mit Elektronik
Amerika vergaß ihn, und auch hierzulande wurde es nach drei Schallplattenveröffentlichungen in den siebziger Jahren still um ihn. Erst beim New Music America Festival 1989 besann man sich wieder auf ihn, lud ihn ein, mehrere seiner Werke aufzuführen. Und endlich erschien vor einigen Wochen wieder eine CD mit Kompositionen der letzten Jahre: "Elpmas".
Hier bedient sich Moondog zum erstenmal der von ihm früher so vehement abgelehnten Elektronik: Mit Hilfe von Samplern setzt er seine Kompositionen mit schier unmöglich scheinender Genauigkeit um, konstruiert mit modernster Technologie raffinierte Archaismen, denen nur mehr wenig von der früheren, leisen aber nicht minder listigen Naivität anhaftet, die Mythen werden digitalisiert und damit wirklicher, die Simulation ersetzt die alte Idee des Realen. Aber die Bewegung seiner Musik ist immer noch die gleiche - ein langsames Vorbeiziehen, fast flüchtig und doch ungemein suggestiv. Sie taucht aus dem Nichts auf, um in ihren eigenen Erinnerungsbildern zu verschwinden, wobei ihre Leichtigkeit über die formale, mathematische Strenge, mit der Moondog seine Triple Kanons baut, souverän hinwegtäuscht. Alles bleibt in völliger Klarheit, spektakuläre Oberflächeneffekte meidet er, um die Stille sprechen zu lassen - im sanften, eleganten Gleichmaß der Bewegung. Nach einer langen Reise ist Moondog nun in unserer Zeit angelangt und unsere Zeit bei ihm.