Weinheimer Nachrichten, 23. Januar 1974


Veronika Kreuzhage

Vom Mut zur Individualität.
Moondog in der Peterskirche


(VK) Moondog: Wer ihn in diesen Tagen, gestützt auf Thelma, seine Gefährtin, durch Weinheims Straßen wandeln sah - blind, ein Ödipus mit Germanenhörnern, eine Nibelungengestalt mit klassischen Zügen, immer umringt von aufgeregt buntem Volk - der mag von seiner Musik, die in der Peterskirche aufgeführt wurde, Seelenfängerei oder Marihuanasphärenklänge, poppige Schlager oder besseren Jazz erwartet haben. Die vierzehn Kanons aus dem ersten und zweiten Band seines Werkes "The Art of Canon" (1962) offenbarten Louis Hardin, genannt Moondog, indessen als einen im Sinne Palestrinas, im Sinne Bachs klassischen Komponisten, der mit durchaus traditionellen, leisen Mitteln zwei Stimmen ein und derselben Melodie ständig fließend vielfältig in jedem Stück überraschend anders sich miteinander verbinden läßt: lyrisch und zart (Kanon C-Dur) oder geheimnisvoll verschleiert wie im Kanon in G-Dur, rhythmisch raffiniert (Kanon F-Dur, es-moll, D-Dur) oder wuchtig. Die alte Idee des musikalischen Zusammenhanges der Teile und der Struktur, fortgeführt und aufgelockert durch subtil verwendete Elemente des Jazz. Moondogs Anhänger mögen in diesen Kompositionen seinen Mut zur Individualität erkannt, ja, denken wir an seinen kuriosen Habitus, wiedererkannt haben. Sein Bekenntnis gegen den Trend der Avantgarde, tönende Montagen außerhalb der Begriffe Raum und Zeit zu produzieren.
Freilich: so individualistisch Moondogs ganze Persönlichkeit - als Erscheinung und als Künstler - sich dargestellt haben mag, ohne Paul Jordan, seinen Freund und Förderer, den Interpreten dieses Abends, wäre uns der Zauber dieser Kanons wohl kaum so sehr bewusst geworden. Moondogs Mut zur Individualität setzte sich in der musikalischen Verwirklichung durch ungewöhnliche Stimmungsfarben, durch kammermusikalische Anklänge, bisweilen auch sogar rhythmisch pointiertes Auftrumpfen fort. Wie denn auch Bach, dem der Hauptteil des Programms galt, unter den Händen dieses jungen Künstlers, Meisterschüler Helmut Walachas, selbst Komponist von einigem Rang, nicht nur tönend bewegte Schönheit vermittelte, sondern passionierte Erweiterung des Vorgegebenen überhaupt. Jede Phase des musikalischen Handlungsablaufs, der fünf verschiedene Formen barocker Orgelmusik vorstellte, trieb zu jener Beteiligung, die man gemeinhin "denken" nennt, bezog in den kreatürlichen Prozeß der musikalischen Gestaltung mit ein. Jede Gebärde, jede Bewegung, jede Artikulation, jede Steigerung: ein Appell an die Imaginations-Kraft. Unvermittelt verwandelte sich das Zuhören, das bloße, entspannte Sich-Gefallen-Lassen schöner Klänge, in aktives Mithören. Paul Jordan benutzte den akademisch-klassischen Stil des bis ins Kleinste intellektuell durchleuchteten Klanggerüstes, um eine eigene, dennoch durchaus bachische Syntax zu entwickeln. Artistische Eskapaden, Formulierungsfreude und Esprit und vor allem eine beinahe visuell wahrnehmbare tiefe Hingebung an die innere Balance jeder einzelnen Komposition.
Das Programm umfasste zwei große Präludien sehr verschiedener Art, in Es-Dur und in a-moll (wobei die quasi französische Doppelpunktierung des Präludiums in Es-Dur herrlich einprägsam zur Geltung kamen, während jedoch die verschiedenen Teile in bezug auf ihre Dynamik vielleicht noch verschmolzener hätten erscheinen können), ein ausgedehntes Choralvorspiel, ein Trio und eine große Phantasie. Besonders diese Phantasie in g-moll, mit ihrer wunderbaren Espressivo-Umdeutung, die das Gegebene nicht nur zärtlich umspielt, sondern humanisiert, sprich: beseelt, offenbarte eine Spannung des Spiels, die im Publikum sichtlich ein Erwachen wie aus tiefer Versunkenheit hervorrief.
Das menschliche und (letzten Endes) künstlerische Ergebnis dieser mit rauschenden Ovationen aufgenommenen Abends mag in der Tatsache zu finden sein, dass sich dem angestammten Kirchenkonzert-Publikum junge Elemente aller Couleurs zugesellt hatten. Sie waren sichtlich Moondogs zuliebe gekommen, feierten aber Bach (und seine Musik zu "Ehren Gottes") mit jener Emphase und Begeisterung, um die in kirchlichen Kreisen seit Jahren gerungen wird.
Vielleicht setzt die Reihe der "Winterkonzerte '74 in der Peterskirche", die mit einer Aufführung des "Ensembles für Alte Musik" der Jugendmusikschule fortfahren wird, zwischen der jugendlichen, musikalisch interessierten Zuhörerschaft Weinheims und der Kirchen-Konzert-Tradition einen neuen Anfang der Beziehungen.