Frankfurter Allgemeine Zeitung von ?

Gerhard Rohde

Improvisationen, Lichtspielmusiken, Alphörner

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik 1993 zum fünfundzwanzigsten Mal


Eigentlich bestehen die Wittener Kammermusiktage schon seit 1936. Robert Ruthenfranz gründete sie als rein regionales Ereignis, internationale Ausstrahlung war damals wohl kaum erwünscht. Nach 1945 dümpelte das Festival vor sich hin, zaghaft sich der Moderne nähernd. Das änderte sich schlagartig, als 1969 Winfried Brennecke und der Westdeutsche Rundfunk aus den Kammermusiktagen die Wittener Tage für Neue Kammermusik schufen. Nikolaus A. Huber war schon mit dabei, kombinierte in seiner "Epigenesis II" elektrische Blockflöten und Kurzwellen für eine Konfrontation unterschiedlicher Ausdrucksmedien.
Nikolaus A. Huber ist auch ein Vierteljahrhundert danach dabei. Für Innovationen, Erkundigungen. Experimentelles besteht bei ihm unverändert größtes Interesse. Harry Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk, seit vier Jahren als Brenneckes Nachfolger für Wittens Kammermusiktage zuständig, strebt für das Festival thematische Vielfalt an. In diesem Jahr weiteten sich die Perspektiven in Richtung Film und Improvisation - improvisierte und komponierte Musik, Zwischenbereiche, Wechselbeziehungen.
Mit dem Filmregisseur Klaus Armbruster fand sich Nikolaus A. Huber zusammen, um ein Stück für Ensemble, Tonbänder und Videoprojektionen herzustellen. Es erhielt den griffigen Titel "Eröffnung und Zertrümmerung" und wurde in Witten mit Instrumentalisten der Musikfabrik NRW uraufgeführt. Der Breitband-Charakter der meist mehrfach unterteilten Optik korrespondiert mit den Verläufen der Komposition, wobei sich Bild und Musik in den vierzehn Abschnitten zunehmend vereinzeln, voneinander immer unabhängiger werden. Die Konkretisierungen der Filmbilder - alte Wochenschauen, Natur, Augen und Gesichter von Menschen - darf man nicht wörtlich verstehen. In der Bearbeitung des Materials vollzieht sich zugleich ein Abstraktionsprozeß. Die optische Bewegung, die auf der extremen horizontalen Leinwand entsteht, verläuft zunehmend selbständiger zur komponierten Bewegung. Gleichwohl behalten die Bilder auch einen gesellschaftlichen, konkreten Bezug: Der "Sehschlitz" schärft den "Blick", die Augen des Betrachters korrespondieren mit den Augen auf dem Band, während die Ohren einen zunehmenden Abstraktionsvorgang der Musik, bis zu einem "spektrenlosen" Sinuston, konstatieren. Bei aller komponierten Raffinesse in Ton und Bild, deren voneinander unabhängigen "Führung", bleibt das Phänomen, daß der Betrachter in einer Art psychologischer "Zwangshandlung", die auch physiologische Komponenten im gleichzeitigen "Sehen" und "Hören" aufweist, die Bild-Ton-Strukturen immer wieder als Einheit zu betrachten geneigt ist - ein Phänomen, das ganz simpel die Dramaturgie der alten Stummfilmmusiken beherrscht. Ein Problem liegt sicher in dem Umstand, daß dem Filmbild, sogar in der Abstrahierung, stets ein größeres Realitätspotential anhaftet, das nur durch die Entmaterialisierung des Bildes, die Auflösung des "Sichtbaren" in "Licht" zu überwinden ist. Arrnbrusters und Hubers "Zertrümmerung" zielt auf diese Auflösung - der fesselndste Beitrag zum Thema Musik und Film.
Als Entrée zum Thema gab es eine Wiederbegegnung aus den frühen sechziger Jahren: Edgar Reitz' und Josef Anton Riedls "Kino 1  Geschwindigkeit" von 1963. Der Komponist Riedl schaute sich damals die dreizehn Minuten Film mit 347 Bildeinstellungcn an, die von Unbewegtheit und Erstarrung über rasende Schnellzugfahrten bis zur Auflösung in die flimmernde weiße Fläche führen, und komponierte dann "aus dem Kopf" dazu eine Musik für Schlagzeug solo, völlig unabhängig vom Bildverlauf.
Natürlich kann man das Thema auch radikal angehen, wie Nikolaus A. Hubers Schüler Hermann Spree (Jahrgang 1960), der sich in seinem Stück "überschreiben" für sechs Instrumente, zwei Kassettenrecorder und Diaprojektor auf die bildlose Projektion beschränkt - ein Stück extremer Introvertiertheit und klanglich subtil gestalteter Zeit - und Raumstrukturen. Daß Film-Musik und Musik-Film auch intelligent und amüsant sein können, beweist Günter Christmann in "Interlinear lingoo" (1992/93), fünf kurzen musik-theatralischen Szenen, in denen der Live-Musiker (Cellist, Schlagzeuger, Posaunist) in das projizierte Bild gleichsam einmontiert erscheint - eine Art Schattenrisstechnik, aus der sich einiger formaler Witz gewinnen lässt.
Konzentriert fand sich die Film-Musik-Thematik in zwei rein musikalischen Darstellungen, der "Begleitmusik zu einer Lichtspielscene op 34" von Schönberg und den "Vier kleinen Stücken für großes Orchester" von Schreker, die der Komponist für die Begleitung von Stummfilmen komponierte. Beiden Werken wohnt ein bemerkenswerter optischer Reiz inne, eine Klang- und Ausdrucksatmosphäre, die sich spontan mit bildhaften Assoziationen verbindet. Johannes Schöllhorn reduzierte die große Orchesterbesetzung beider Stücke mit viel Sinn für instrumentale Valeurs auf eine Kammerbesetzung mit vierzehn Spielern; das "ensemble recherche" aus Freiburg unter Mark Foster wiederum agierte so souverän, spielte so klangreich und mit artikulatorischer Deutlichkeit, daß man unentwegt das große Orchester zu hören vermeinte. Das Beispiel Schönberg/Schreker wirkte weiter auf zwei andere Wittener Uraufführungen: Sowohl "Ralentir travaux" (Vorsicht, Baustelle!) auf Gedichte von Breton, Char und Eluard, von Schöllhorn und dem Filmemacher Armin Schneider verfaßt, als auch das Ensemble-Film-Stück "Aber die Schönheit des Gitters" von Cornelius Schwehr (Komposition) und Didi Danquart entstanden in getrennten Herstellungsverfahren; das heißt, die Musik und die Filmsequenzen wurden unabhängig vom jeweils anderen geschrieben und produziert. Dadurch ergeben sich im Detail interessante Konfrontationen. Reibungen zwischen Klang und Optik, auch Übereinstimmungen wohl eher zufälliger Art. Natürlich werden im Vorfeld zwischen den Beteiligten Konzeptionsgespräche geführt, Zufälligkeit erfährt so doch Steuerung.
Die "improvisierte Musik", das zweite Thema der diesjährigen Wittener Kammermusiktage, stellte sich insgesamt weniger ergiebig dar. Der Übergang zwischen exakt Komponiertem und freier, spontan entwickelter Musik läßt sich naturgemäß schwer fixieren, die Grenzen sind fließend, verschieben sich von Fall zu Fall in jeweils die eine oder andere Richtung. Natürlich hat Harry Vogt recht, wenn er Improvisationsverfahren vor allem dem kammermusikalischen Bereich zuordnet, weil Improvisation im Prinzip individualistisch gebunden ist. Malcolm Goldsteins Streichquartett "Through deserts of time" (1990), Frederic Rzewskis "Holes" (Löcher, Höhlungen) für Klavier und kleines Ensemble und Benedict Masons "Colour and Information" für Ensemble (1992/93), alles Uraufführungen, beschreiben unterschiedliche Improvisationstechniken, wobei Mason eher von Kommunikationsverfahren sprechen möchte: Im Vorfeld der Aufführung werden komponierte und improvisierte Phasen bei den Proben miteinander verknüpft - das setzt bei den Ausführenden natürlich ein hohes Maß an Erfahrung und Selbständigkeit des Entscheidens voraus. Das Ensemble Modern war kongenialer Partner.
Die Wittener Kammermusiktage sollen aber nicht nur nach thematischen Regeln ablaufen, sondern auch der komponierenden Individualität weiterhin gebührenden Platz cinräumen. So war ein Konzert des Schönberg-Ensemble Amsterdam unter Reinbert de Leeuw ausschließlich den Kompositionen Nr. 1 bis 3 der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja gewidmet. Die religiös intendierten und betitelten Stücke überraschen zunächst durch ihre Besetzungen - das "Dona nobis pacem" für Piccoloflöte, Tuba und Klavier, das "Dies irae" für acht Kontrabässe, Schlagzeug und Klavier, das "Benedictus" für vier Flöten, vier Fagotte und Klavier, dann aber auch durch eine Radikalität des Ausdrucks, die Kompaktheit der einfachen, blockhaften Formen, die in dieser Direktheit und auch bewußten Simplizität zumindest ungewöhnlich ist.
Ungewöhnlich für ein Kammermusikfestival war auch der Klang der Alphörner, den das Mytha Alphorn Orchestra von Hans Kennel für ein Konzert nach Witten brachte. Ergreifender Augenblick: als der greise, blinde Louis Hardin, genannt Moondog, der heute im Ruhrgebiet lebt, seinen Kanon für 16 Alphörner in F in drei Sätzen höchstpersönlich im Sitzen dirigierte, ein Stück für fünf Obertöne, die äußerst kunstvoll polyphon, kontrapunktisch, tonal, horizontal und vertikal durch das Alphorn-Orchester geführt werden: eine Musik mit mythischem Abgrund. Das Gegenbild zu Ustwolskaja und Alphörnern entwarf Mathias Spahlinger mit seinen Variationen für Streichtrio. "Presentimientos" (1992/93), Heinz-Klaus Metzger zugeeignet. Mit dem Blatt "Presentimientos" (Vorgefühle) beginnt Goyas Zyklus "Desastres de la guerra". Spahlingers dramaturgisches Komponieren ist immer wieder voller Anspielungen, die aber nirgends als Zitat erscheinen, sondern konstituierende Wirkung für Form und Struktur des Werkes erhalten. Die drei Streichinstrumente (das glänzende trio recherche, aus dem gleichnamigen Ensemble hervorgegangen) werden dialektisch spannungsvoll in Einer- und Zweier-Stimmen mit- und gegeneinander geführt. Spahlinger greift damit auf Schönbergsche Verfahrensweisen und Denkmodelle zurück (Orchestervariationen op. 31, Streichtrio op. 45), ebenso auf Materialien aus den genannten Stücken. In die segmentiven Anordnungen hat Spahlinger zusätzlich noch Tonbandeinschübe "komponiert", Knackgeräusche, das Summen einer Neonröhre, um die Zersplitterung des Materials vor der Gefahr neuer formaler Zusammenhänge zu schützen. "Presentimientos" ist ein Werk von hoher Bewußtheit, äußerst spröde in seinem klanglichen Erscheinungsbild. Es sperrt sich gegen jede schnelle Konsumierbarkeit, gegen Einebnung und Vereinnahmung. Spohlinger beharrt auch mit diesem Streichtrio auf einer extrem individualistischen Position, die, weil sie inkommensurabel ist, gegen gängige gesellschaftspolitische Tendenzen opponiert - auch gegen das Gängige der zeitgenössischen Musik. Spahlingers wütender Protestruf gegen Stockhausens InvasionsPosaune (in einem der Konzerte), ein Temperamentsausbruch scheinbar am Rande, bezeichnet diese Distanz in Wahrheit sehr genau.