aus / from: Keyboards 8 (1994) p. 16-30.

Albrecht Piltz:

Moondog
Rebell gegen die Rebellen

Denn trotz des von Altersspuren gezeichneten Gesichts, des gebeugten Gangs und der schlohweißen Mähne hat der 78-jährige nichts von einem Monument an sich. Vielmehr umgibt ihn eine Aura so vitaler Jugendlichkeit und sanfter Autorität, daß auch den, der mit seinem Werk nicht vertraut ist, eine Ahnung beschleicht, weshalb der Name Moondog seinen Verehrern nur im Respektston über die Lippen kommt.

Deren Liste hat in bald vier Jahrzehnten eine stattliche Länge erreicht, und sie ist prominent besetzt: Sie reicht von "Klassikern" wie Igor Strawinsky und Arturo Toscanini über Jazzer wie Benny Goodman und Charlie Parker - nicht zu vergessen den Grenzgänger Leonard Bernstein - bis hin zu den Minimal-Music-Pionieren Terry Riley und Philip Glass und Pop-Artisten wie den Beatles und Paul Simon.

Stationen eines bewegten Lebens: Am 26. Mai 1916 wird Louis Thomas Hardin in Maryville, Kansas, geboren; er wächst in North Carolina, Wisconsin und Wyoming auf.

Der Vater, ein Pfarrer und Rancher, nimmt den Jungen mit auf seine Reisen durch die Indianerreservate. Der ist fasziniert von den indianischen Trommelrhythmen, erlernt das Schlagzeugspiel, trommelt später in einer Highschool-Band.

Mit sechzehn findet er auf einem Schienenstrang eine Handvoll Sprengkapseln, greift zu, spielt mit ihnen herum. Das Dynamit explodiert, Louis erblindet. Ein Schicksalsschlag, dem er im Nachhinein auch Gutes abgewinnt: "Ohne den Unfall hätte ich wohl nie die Möglichkeit bekommen, Musiker zu werden."

Auf einer Blindenschule in Iowa erlernt er das Klavier-, Orgel-, Violin- und Violaspiel, studiert Chorgesang und Harmonielehre. In Memphis nimmt er acht Monate lang Privatunterricht beim Leiter des Konservatoriums, von dem er sich in die Geheimnisse des Kontrapunkts einweihen läßt. 1943 zieht es den 27jährigen nach New York: "Ich dachte, wenn ich vorankommen will, muß ich dorthin. New York war damals die Stadt, in der alles passierte." Der Weg zum Erfolg erweist sich allerdings als steinig: knapp drei Jahrzehnte, bis 1971, steht Hardin fast täglich an Straßenecken wie der Sixth Avenue/54th Street oder der Fifth/42nd, schlägt seine Trommel, singt seine Lieder, verkauft seine Gedichte. Ein finanzielles Auskommen findet er erst, als sich Musiker des New York Philharmonic Orchestra zusammentun und ihm die Zimmermiete bezahlen.

Aber der Big Apple liefert auch den Humus, auf dem die Moondog-Legende wächst; die ersten von zahllosen Anekdoten beginnen sich um den Außenseiter zu ranken. Zum Beispiel diese: 1954 strengt Hardin, der sich seit 1947 Moondog nennt ("im Gedenken an einen Hund, den ich in Hurley, Missouri, hatte und der den Mond anbellte wie kein anderer"), einen Prozeß gegen den Disc-Jockey Alan Freed an. Der selbsternannte Erfinder des Begriffs "Rock'n'Roll" hat sich erdreistet, das Markenzeichen Moondog für die Radio-Show "Moondog Rock'n'Roll House Party" zu verwenden. Moondog gewinnt. Nicht zuletzt, weil der Komponist Igor Strawinsky ans Gericht appelliert: "Bedenken Sie, der Mann ist ein ernstzunehmender Komponist!"

Zu diesem Zeitpunkt ist Moondog längst eine "Sehenswürdigkeit". Keine Sightseeing-Tour durch Manhattan, die nicht auch an den Wirkungsstätten des Straßenmusikers vorbeiführt. Das "Hilton"-Hotel wirbt in der New York Times: "Gegenüber von Moondog." Aus gutem Grund, denn Louis Hardin hat sich ein spektakuläres Outfit zugelegt. Mönchskutte, Wikingerhelm und Speer sind Ausdruck seiner Begeisterung für die nordische Mythenwelt Europas, von der auch die Titel seiner Kompositionen künden: "Viking", "Lögründr".

Im New York der späten Vierziger und frühen Fünfziger macht Moondog die Bekanntschaft arrivierter Musker, unter ihnen der Bebop-Saxophonist Charlie "Bird" Parker und der Dirigent der New Yorker Philharmoniker, Artur Rodzinski, der ihn regelmäßig zu seinen Orchesterproben einlädt und ihm Zugang zur renommierten Juilliard School of Music verschafft. Moondog: "Bei ihm habe ich eine Menge über Orchestration gelernt." Auch der junge Leonard Bemstein weist hin auf "dieses seltsame Genie, das da unten an der Ecke steht".

Erste Erfolge stellen sich ein: diverse Plattenfirmen bitten Moondog ins Studio, unter ihnen das Jazz(!)-Label Prestige (siehe Diskographie). 1955 nimmt er für die Firma Angel Records ein Album mit Kinderliedern auf, zusammen mit der Sängerin und Schauspielerin Julie Andrews. Es folgen ein Auftritt mit dem Jazzbassisten Charles Mingus im Whitney Museum und Lyrik-Lesungen mit dem Beat-Poeten Allen Ginsberg.

Doch erst Ende der sechziger Jahre beginnt sich das Blatt wirklich zu seinen Gunsten zu wenden. Die Hippies der Woodstock-Generation glauben in Moondog einen der ihren zu erkennen; Janis Joplin und ihre Begleitband Big Brother & The Holding Company nehmen eine Version seines Madrigals "All Is Loneliness" auf. Der Komponist ist wenig begeistert: "Sie haben es verhunzt!" James William Guercio, Ex-Mitglied von Frank Zappas Mothers of Invention und Produzent der Rockjazz-Combo Chicago, produziert für die Firma Columbia zwei Alben mit Hardin, "Moondog" (1969) und "Moondog 2" (1971); auf dem ersten wirken Jazzgrößen wie der Miles-Davis-Bassist Ron Carter und Hubert Laws, Ex-Flötist des Modern Jazz Quartet, mit. "Moondog" verzeichnet fünfstellige Verkaufszahlen und verhilft seinem Schöpfer zu Einladungen in die Alte Welt, vor allem nach Frankreich und Deutschland.

1974 entschließt sich Moondog nach einem Konzert in Frankfurt, nicht in die Staaten zurückzukehren. Hamburg und Hannover heißen seine nächsten Stationen. Ein Jahr später steht er in der Fußgängerzone der Ruhrstadt Recklinghausen, schlägt wieder seine Trommel, singt seine Lieder, verkauft seine Gedichte. Nachts notiert er in einem abbruchreifen Haus neue Kompositionen. Irgendwann fällt er im City-Gewühl der Geologiestudentin Ilona Goebel auf: "Mein zehn Jahre alter Bruder wollte ihn zu Weihnachten zum Essen nach Hause einladen, weil er ihm so leid tat. Aber keiner aus der Familie traute sich, ihn zu fragen. Und dann sah ich eine Platte mit seiner Musik - Orchesterstücke, gespielt von 45 Musikern, mit einer Menge Musikern. Die kaufte ich. Als ich seine Musik zum ersten Mal hörte, war ich ergriffen. Ich konnte nicht glauben, daß jemand, der eine solche Musik schreiben kann, so leben muß. Da lud ich ihn nach Hause ein."

Aus der Bekanntschaft wird eine Freundschaft. Bald lebt und arbeitet Moondog im Goebelschen Elternhaus in Oer-Erkenschwick. Die angehende Akademikerin verwirft ihre Karrierepläne und wird rasch zur rechten Hand des Tonsetzers. Sie erlernt die Brailleschrift, um seine Werke in "normale" Noten übertragen zu können, und gründet den Musikverlag Managarm (isländisch für "Mondhund"). Und sie redet Moondog die martialische Wikingerkluft aus: "Bist du ein Mode-Designer oder ein Komponist?"

Mit der Veränderung seiner äußeren Erscheinung geht offenbar auch ein innerer Wandel Moondogs einher. Denn wo seine älteren Texte zwischen verschmitztem Humor, philosophisch distanzierter Weltbetrachtung und autobiographischer Notiz changieren ("No, The Wheel Was Never Invented"; "Each Today Is Tomorrow's Yesterday", "Be A Hobo"; alle auf "Moondog 2", 1971), klingt nun manch jüngerer Songvers wie das Bekenntnis eines Greenpeace-Aktivisten. "Enough About Human Rights" vom Album "H'Art Songs" (1971) ist eine pazifistische Litanei, in der kaum ein Getier ausgelassen wird: "Schluß mit Menschenrechten! Was ist mit Walrechten, Schneckenrechten, Robbenrechten, Aalrechten, Waschbärrechten ...?"

Bis 1979 erscheinen auf dem Bochumer Label Kopf Records drei neue Alben (siehe Diskographie) und Moondog avanciert in der bundesdeutschen Alternativszene der siebzigerJahre zur Kultfigur.

Unter seinen amerikanischen Verehrern hingegen hält sich hartnäckig das Gerücht, daß der so plötzlich aus dem New Yorker Stadtbild Verschwundene das Zeitliche gesegnet hat. Paul Simon beklagt in einer TV-Talkshow, daß sein Idol verstorben sei. Ein Irrtum, der sich erst aufklärt, als der Totgesagte von der Brooklyn Academy of Music zum 10th New Music America Festival nach New York eingeladen wird, wo er im November 1989 mit dem Brooklyn Philharmonic Orchestra neue Kompositionen aufführt. Und obwohl im Rahmen des Festivals Werke so populärer Avantgardisten wie Laurie Anderson, Philip Glass, Steve Reich und Conlon Nancarrow präsentiert werden, begeistert Publikum und Kritiker vor allem die Rückkehr des verlorenen Sohns. Moondogs Auftritt wird mit Ovationen bedacht, sein Oeuvre neuentdeckt.

Das ist so umfangreich wie vielfältig. Moondog hat für unterschiedlichste Besetzungen komponiert: Perkussionsstücke versetzt mit O-Tönen von New Yorker Straßen ("More Moondog" 1956), Symphonien für großes Orchester ("Moondog", 1969), "Folk"-Songs für Solo-Piano und Gesang ("H'Art Song", 1978), sakral anmutende Orgelwerke ("A New Sound Of An Old Instrument", 1979).

Damit nicht genug, wendet sich der Komponist Anfang der neunziger Jahre der Computertechnologie zu ("Elpmas", 1991), knüpft Kontakte zu Pop- und Rockmusikern.

Auch sein jüngstes Album "Sax Pax For A Sax", eine Hommage an den Saxophon-Erfinder Adolphe Sax, zeugt von ungebrochener Schaffenskraft: die bis zu 36stimmigen Kanons fordern ihren Spielern, dem Bläser-Ensemble The London Saxophonic, eine geradezu mathematische Präzision ab und klingen dabei mitunter so "frei" wie improvisierter Jazz.

Daß bislang nur ein Bruchteil seines Werks aufgenommen und für die Nachwelt verewigt ist, scheint Moondog nicht zu bekümmern. Zwar lagern noch immer gut 1500 unveröffentlichte Kompositionen in Kisten und Schubladen, vom einminütigen Lied über opulent orchestrierte Sinfonien bis zum neunstündigen Kanon für 1000 Stimmen; aber den Gedanken, sich allmählich zur Ruhe zu setzen, weist ihr Urheber weit von sich. Noch immer sprudelt Moondog über vor Ideen und Zukunftsplänen; am liebsten würde er gleich drei Alben auf einmal aufnehmen.

Immerhin hat er sich für einen Alterssitz entschieden, wie er dem KEYBOARDS-Fotografen im Verlauf der Session verrät: eine alte Mühle im Schwarzwald soll es sein. Bis deren Rad im Tal von Moondogs Trommelschlägen klappert, dürften allerdings noch einige Liter Wasser den Bach hinabfließen.


KEYBOARDS: Mr. Hardin, die erste Platte von Ihnen, auf die ich Ende der siebziger Jahre stieß, war "H'Art Songs" - kurze Kompositionen für Piano, Percussion und Gesang, von denen Sie damaIs sagten, es seien Kunstlieder [art songs], mit denen Sie sowohl Klassik- als auch Pop-Hörer ansprechen wollten.
Ich habe dann nachgeforscht und zwei Alben entdeckt, die Sie 1969 und 1971 für Columbia aufgenommen haben, "Moondog" und "Moondog 2", mit großem Orchester. Seither haben Sie nie wieder mit einer so großen Besetzung gearbeitet. War das Absicht, oder konnten Sie sich später ein solches Orchester nicht mehr leisten?

MOONDOG: Nun, bei "H'Art Songs" war es so, daß die Leute von der Plattenfirma ein Album mit Songs von mir haben wollten. Also habe ich ihnen Songs gegeben. Aber ich arbeite gern mit verschiedenen musikalischen Ausdrucksmitteln, egal, ob es sich um ein Sinfonieorchester handet oder um ein Kammerorchester oder um einen Solisten. Nur eine Firma wie Columbia konnte sich jedoch ein Orchester leisten.

KEYBOARDS: Wie kam es 1969 zur Zusammenarbeit mit Columbia? James William Guercio war der Produzent.

MOONDOG: Ja, er trat an mich heran und fragte, ob ich Lust hätte, ein Album mit ihm zu machen. Natürlich hatte ich Lust. Ich hatte lang auf diese Gelegenheit gewartet.

KEYBOARDS: War es für Sie als Komponist eine unerwartete Herausforderung, oder hatten Sie schon früher mit dem Gedanken gespielt, für ein Orchester zu komponieren?

MOONDOG: Oh, ich hatte schon eine Menge Musik für Orchester. Ich war glücklich, sie endlich aufnehmen zu können. Aber das Angebot kam unerwartet.

KEYBOARDS: Wann wurde Ihnen klar, daß Sie Komponist werden wollten?

MOONDOG: Eigentlich schon mit elf Jahren. Damals schrieb ich meinen ersten Song, nur so für mich. Das war in Wyoming, 1927. Jahre später fiel er mir wieder ein, und ich schrieb ihn auf. Aber ernsthaft angefangen habe ich mit dem Komponieren erst in den späten vierziger Jahren.

KEYBOARDS: Sie komponieren nach den Regeln des Kontrapunkts - ein Konzept der europäischen klassischen Musik. Wann sind Sie zum ersten Mal mit dieser Musik in Berührung gekommen?

MOONDOG: Das war 1933. Ich war in Iowa auf einer Blindenschule. Dort hörte ich zum ersten Mal klassische Musik von Schallplatten. Sie hatten Beethovens Fünfte, Tschaikowskis Vierte, den "Ring" von Wagner. Ich war sehr beeindruckt.

KEYBOARDS: Was hat Sie daran so beeindruckt?

MOONDOG: Das ist schwer zu sagen. [Pause] Ich glaube, es war die Tatsache, daß ich bis dahin nicht einmal wußte, daß es diese Musik überhaupt gibt. Ich hatte so etwas noch nie gehört, es war wie eine Offenbarung.

KEYBOARDS: Welche Musik hatten Sie bis dahin gehört? Oder gab es in Ihrem Elternhaus keine Musik?

MOONDOG: Doch, mein Vater besaß eine Menge Schellackplatten mit Ragtime-Musik. Aber das war alles, was ich bis dahin gehört hatte, außer Kirchenliedern.

KEYBOARDS: Ein großer Schritt bis zur europäischen Klassik.

MOONDOG: Ja, denn es liegen Welten zwischen der amerikanischen und der europäischen Musik. Meine Musik ist sehr europäisch.

KEYBOARDS: Um so merkwürdiger finde ich, daß Sie einmal von dem Minimalisten Philip Glass als leader of the pack bezeichnet worden sind. Hat sich Glass geirrt?

MOONDOG: Ja, er hat sich geirrt, denn ich habe mit dieser Bewegung nicht das geringste zu tun. Diese Leute schenken ja dem Kontrapunkt keine Beachtung. Das einzige, was mich mit Glass verbindet, ist die Tonalität - wir denken beide tonal. Und menschlich fühle ich mich ihm verbunden, denn wir haben in den Sechzigern sehr viel Zeit miteinander verbracht. Aber musikalisch trennen uns Welten.

KEYBOARDS: Auch manche Kritiker ordnen Ihre Kompositionen unter "Minimalismus" ein. Vielleicht, weil Sie manchmal mit ähnlichen Rhythmuspatterns arbeiten wie die Minimalisten.

MOONDOG: Nun, wenn ich die Minimalisten richtig verstehe, beziehen sie ihre rhythmischen Ideen aus der indischen Musik. Dort finden Sie diese shifting patterns. Aber im Gegensatz zu ihnen arbeite ich mit Rhythmen, die sich überhaupt nicht verändern. Meine Rhythmen stammen aus der Musik der nordamerikanischen Indianer. Sie haben zwei Grundrhythmen, den walking beat und den running beat [klopft auf den Tisch]: bom-bom-bom-bom ... Ein regelmäßiger Rhythmus, der sich nicht ändert. 1921 oder '22, als ich noch ein kleiner Junge war, nahm mich mein Vater mit ins Reservat der Arapaho, und ich durfte am Sun Dance teilnehmen. Der Häuptling Yellow Calf ließ mich auf seinem Schoß sitzen und die Trommel schlagen. Ein eindrucksvolles Instrument von zwei Metern Durchmesser, mit Büffelleder bespannt - es klang gewaltig!

KEYBOARDS: Daher Ihre Vorliebe für Perkussionsinstrumente.

MOONDOG: Ja, die Indianer sind schuld. [lacht] Ich würde gern nochmal zu ihnen zurückkehren, denn ich fühle mich ihnen sehr nahe.

KEYBOARDS: Aber Sie leben seit zwanzig Jahren in Deutschland. Haben Sie je daran gedacht, in die Staaten zurückzukehren?

MOONDOG: Ja, aber nur für Konzerte. Ich hoffe, daß es im nächsten Jahr wieder dazu kommt. Aber es wird bei einem Besuch bleiben, ich werde zurückkommen.

KEYBOARDS: Warum haben Sie sich 1974 entschlossen, nicht nach Amerika zurückzukehren?

MOONDOG: Nun, ich kam damals nach Frankfurt, um für den Hessischen Rundfunk ein Radiokonzert zu geben. Sie stellten mir ein kleines Orchester zur Verfügung, und ich habe es dirigiert. Das gefiel mir so gut, daß ich dachte, wenn sie mich hier so behandeln, warum soll ich zurückgehen? Also bin ich geblieben. Ich ging für ein Jahr nach Hamburg, dann kam ich nach Recklinghausen, und dort traf ich IIona [Goebel]. She is my eyes.

KEYBOARDS: Als Sie noch in den USA lebten, haben Sie sich einmal als "Europäer im Exil" bezeichnet.

MOONDOG: Das hatte mit meiner Liebe zur klassischen Musik der Alten Welt zu tun. Heute denke ich, daß diese Erde mein Zuhause ist. Länder sind nicht wichtig.

KEYBOARDS: Ihre Musik basiert auf klassische Formen wie Fuge und Kanon. Was fasziniert Sie daran?

MOONDOG: Die Struktur. Sie entspricht meiner Auffassung davon, wie eine Komposition gebaut sein sollte. Es war ein Kanon von Bach, der mich dazu gebracht hat, in dieser Form zu komponieren. Aber auf der Musikschule, die ich besuchte, wurde der Kontrapunkt nicht gelehrt; dort drehte sich alles um Harmonielehre. Also mußte ich mir die meisten Regeln selber beibringen.

KEYBOARDS: Wie haben Sie das gemacht?

MOONDOG: Nun, ich besorgte mir Lehrbücher aus einer öffentlichen Bibliothek. Aber je länger ich sie studierte, desto mehr fiel mir auf, daß sich die alten Meister des Kontrapunkts nicht immer an die Regeln hielten. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms - sie alle haben in ihrer Musik eine Menge Fehler.

KEYBOARDS: Haben Sie sich einen Spaß daraus gemacht, den Meistern ihre Fehler nachzuweisen?

MOONDOG: Die Fehler waren einfach unübersehbar! Verstehen Sie, wenn Sie sich für Ihre Arbeit ein Vorbild gesucht haben, dann haben Sie zwei Möglichkeiten, davon zu lernen. Sie lernen wie man es richtig macht; und Sie lernen, wie man es nicht macht. Ich habe beides gelernt.
Aber ich habe bisher nur eine einzige Komposition gefunden, die völlig frei von Fehlern ist. Da Stück heißt "Sumer is icumen in", es wurde um 1300 von einem englischen Mönch geschrieben. Niemand kennt seinen Namen, und darin liegt eine gewisse Ironie - ein perfektes Stück, aber der Komponist ist unbekannt.
Das Problem ist, daß man ein Stück schreibt und denkt, es ist in Ordnung. Aber um ganz sicherzugehen, muß man es analysieren. Ich sage mir jedesmal, wenn ich etwas komponiert habe: "Du hast es geschrieben, nun analysiere es!"
In einem vierstimmigen Kanon zum Beispiel haben Sie sechs verschiedene Möglichkeiten, Fehler zu machen: zwischen Stimme 1 und Stimme 2, zwischen 1 und 3, zwischen 1 und 4, zwischen 2 und 3, zwischen 2 und 4, zwischen 3 und 4. Sechsmal haben Sie die Möglichkeit, es richtig oder falsch zu machen, und das in jedem Takt! So etwas zu analysieren ist ungeheuer langweilig. Aber man muß es tun, denn wenn Sie es nicht tun, wird Ihnen nie eine perfekte Komposition gelingen. Ich lege Wert darauf, daß meine Kompositionen frei von Fehlern sind, darum analysiere ich jede einzelne sehr sorgfältig.

KEYBOARDS: Ein Stück ist für Sie erst dann fertig, wenn Sie es analysiert haben?

MOONDOG: Genau. Verstehen Sie, ein Stück zu schreiben geht sehr viel schneller, und es macht auch viel mehr Spaß, als es zu analysieren, aber ohne die Analyse geht es nicht. Ich kann jedoch verstehen, warum sich Bach diese Mühe nicht gemacht hat. Er mußte seine zwanzig Kinder ernähren und jede Woche eine Kantate fertigstellen, und er mußte sich um seine Schüler kümmern. Bach hatte einfach zuviel zu tun; zwei Drittel seiner Zeit gingen für andere Sachen drauf als fürs Komponieren.
Denken Sie an seine Brandenburgischen Konzerte! Er schrieb die Konzerte in der Hoffnung, daß sie ihm eine feste Anstellung einbringen würden. Aber was passierte? Die Konzerte wurden abgelehnt. Und ich kann Ihnen sagen, warum: sie steckten voller Fehler. Ich weiß nicht, ob sie dort einen musikalischen Experten hatten, dem das auffiel, aber Tatsache ist, es war eine schlampige Arbeit.

KEYBOARDS: Wenn man Ihre Kompositionen zum ersten Mal hört, zum Beispiel die Saxophonstücke auf "Sax Pax For A Sax", hat man mitunter den Eindruck, daß die Musiker wie im Jazz improvisieren. Obwohl ich weiß, daß das nicht stimmt.

MOONDOG: Nein, ich lasse niemals improvisieren. Aber ich weiß, daß der Eindruck entsteht.

KEYBOARDS: Absicht oder Zufall?

MOONDOG: Oh, es ist Absicht! Ich versuche, meine Stücke so klingen zu lassen, als wären sie improvisiert.

KEYBOARDS: Wenn es Absicht ist, warum lassen Sie dann Ihre Musiker nicht wirklich improvisieren?

MOONDOG: Weil dann der Zufall regieren würde.

KEYBOARDS: John Cage hat den Zufall geradezu zum Prinzip seiner Arbeit erhoben.

MOONDOG: Aber das ist nicht das, was ich unter Komponieren verstehe. Natürlich ist es manchmal schwer, nach den Regeln zu komponieren und es so klingen zu lassen, als wäre es improvisiert. Aber es ist möglich!

KEYBOARDS: Ist Improvisation in der Musik für Sie generell ein Unding?

MOONDOG: Nein, aber nur der Komponist selber kann improvisieren, sonst niemand. Denn wenn ein Solist aus einem Jazz-Orchester hervortritt und ad lib zu spielen beginnt, kann er unmöglich wissen, was die anderen machen werden, und das Ergebnis ist, daß sich alle in die Quere kommen. Der Solist tanzt dem Orchester auf der Nase herum, die anderen Musiker müssen irgendwie reagieren, und die Komposition löst sich auf. Selbst bei Benny Goodman war das so, trotz all seiner Qualitäten. Wenn er anfing zu improvisieren, war es im Vergleich zu dem, was das Orchester spielte, voller Fehler. Hätte Goodman seine Soli nur zu Schlagzeugrhythmen gespielt, hätte er natürlich keine Fehler machen können. Die Fehler konnten nur im Zusammenhang mit den Orchesterstimmen entstehen, denn dafür gibt es Regeln.

KEYBOARDS: New York entwickelte sich während der Jahre, die Sie dort verbracht haben, zu einem Mekka des Jazz. Haben Sie sich damals mit Jazz auseinandergesetzt?

MOONDOG: Nun, wenn Sie in den Vierzigern und Fünfzigern in New York waren, kamen Sie gar nicht darum herum.

KEYBOARDS: Sie waren mit vielen dieser Musiker persönlich bekannt, zum Beispiel mit Charlie Parker.

MOONDOG: Ja, ich kannte ihn, er kam manchmal vorbei. Ich war zwar nie in einem seiner Konzerte, aber seine Platten habe ich voller Bewunderung gehört - wie ich überhaupt die Bebop-Musiker sehr geschätzt habe, denn sie wußten mit ihren Instrumenten umzugehen. Mit ihrer Haltung gegenüber der Bedeutung von "Komposition" hatte ich natürlich Schwierigkeiten. Aber das war mein Problem.

KEYBOARDS: Haben Sie damals mit Parker über Ihre unterschiedlichen Auffassungen gesprochen?

MOONDOG: Nein, wir sprachen nur einmal darüber, zusammen eine Platte zu machen. Es war sein Vorschlag. Leider ist es nicht dazu gekommen. Als ich von seinem Tod [12. März 1955] hörte, war ich traurig.

KEYBOARDS: Sie haben ihm eine Komposition gewidmet, "Bird's Lament".

MOONDOG: Ja, ich fühlte mich ihm sehr nah und das wollte ich zum Ausdruck bringen.

KEYBOARDS: Die Fassung, die man jetzt auf "Sax Pax For A Sax" hören kann, ist die zweite. Die erste haben Sie 1969 mit Orchester aufgenommen [auf dem Album "Moondog"]. Warum die Neuaufnahme, waren Sie mit der ersten nicht zufrieden?

MOONDOG: Die erste Fassung war zu schnell, der Schlagzeuger machte zuviel Tempo. Auf der neuen Platte klingt das Stück so, wie ich es eigentlich schon damals haben wollte.

KEYBOARDS: Hat man Sie nicht konsultiert, eh man die Aufnahme veröffentlichte?

MOONDOG: Doch, und ich habe auch mit dem Produzenten [James William Guercio] darüber gesprochen. Ich wollte es langsamer haben, aber er redete es mir aus. Später tat es mir leid, daß ich auf ihn gehört hatte, denn es war wirklich viel zu schnell gespielt worden.

KEYBOARDS: Auf vielen Ihrer Aufnahmen singen Sie. Welche Funktion hat der Gesang für Sie? Ist er ein zusätzliches musikalisches Ausdrucksmittel, oder geht es Ihnen darum, eine Botschaft zu transportieren?

MOONDOG: Nun, wenn ich einen Text schreibe, dann will ich damit natürlich etwas sagen. Aber in erster Linie bin ich Komponist, und was den Gesang angeht, arbeite ich am liebsten mit einem Chor.

KEYBOARDS: Nicht mit Solo-Sängern?

MOONDOG: Nein, denn sie singen meistens mit Vibrato, was ich nicht mag.

KEYBOARDS: Weil es Ihren Kompositionen ein dramatisches Element hinzufügt?

MOONDOG: Ja, genau. Mir ist der Belcanto-Stil lieber, ein Gesang ohne übertriebene emotionale Effekte.

KEYBOARDS: Mit Ihrem eigenen Gesang kommen Sie diesem Ideal sehr nahe, vor allem auf "H'Art Songs" [1978]. Da waren Sie über sechzig, aber Sie klangen wie ein junger Sänger.

MOONDOG: Das ist mir oft gesagt worden, daß meine Stimme sehr jung klingt. Aber daß ich selber singe, war für mich zunächst nur eine Notlösung.

KEYBOARDS: Haben Sie je Gesangsunterricht genommen?

MOONDOG: Nein, nie. Vielleicht ist das ein Vorteil, denn ich habe das Gefühl, daß man dort lernt, wie man besser nicht singt.

KEYBOARDS: Aber Sie haben Klavier-, Orgel- und Violinunterricht gehabt.

MOONDOG: Ja, aber ich war kein besonders guter Violinist. Und Klavier spiele ich heute nur noch, um Dinge auszuprobieren. Wenn ich eine komplizierte Akkordstruktur habe, spiele ich sie mir auf dem Klavier vor, um zu hören, wie sie klingt. Aber das meiste komponiere ich nicht auf einem Instrument, sondern an einem Tisch.

KEYBOARDS: Es heißt, Sie haben noch Unmengen unveröffentlichter Kompositionen.

MOONDOG: Ich habe Kisten voller Musik, die noch nie aufgenommen worden ist. [lacht] Langsam weiß ich nicht mehr, wohin damit, es stapelt sich.

KEYBOARDS: Wie viele unveröffentlichte Symphonien sind darunter?

MOONDOG: Nun, ich glaube, es war in den Achtzigern, als ich in einer Zeitschrift las, ich hätte zweihundert. Ich habe ihnen das nicht erzählt. Aber ich könnte Ihnen eine 25minütige Symphonie innerhalb einer Woche liefern, kein Problem. Denn die Regeln stehen fest, und ich halte mich an sie. Eine Symphonie schreibt sich ziemlich leicht.

KEYBOARDS: Notieren Sie Ihre Kompositionen noch immer in Braille?

MOONDOG: Ja, und dann diktiere ich sie Ilona [Goebel]. Früher mußte ich einen Stift benutzen, heute haben wir einen Computer, und damit geht alles sehr viel schneller. Der Computer kann transponieren, er kann Takte wiederholen, und er spielt einem alles vor, was man geschrieben hat. Man kann die Partitur hören - ein unschätzbarer Vorteil gegenüber der Arbeit mit Stift und Papier. Der Computer kann alles, was ich für meine Arbeit brauche. Der Computer hat mir meine Arbeit sehr erleichtert. Er erspart mir und ihr viel Zeit.

KEYBOARDS: Auf "Elpmas" [1991] haben Sie zum ersten Mal mit elektronischen Keyboards und Sampling gearbeitet. Mit dem Titel des Albums, der Umkehrung des Worts "Sample", haben Sie selbst darauf hingewiesen.

MOONDOG: Ja, aber "Sample" hatte noch eine zweite Bedeutung. Ich habe auf dieser Platte eine "Auswahl" der musikalischen Gedanken präsentiert, mit denen ich mich damals zum ersten Mal befaßt hatte. Es gab auf dem Album zum Beispiel acht Tripelkanons, was bedeutet, daß es sich um drei Kanons in einem handelt, ein sehr komplexes Gebilde. Aber wenn man Computer zu Hilfe nimmt, kann man es bewältigen.

KEYBOARDS: In früheren Jahren haben Sie sich gegen die "Computerisierung" der Musik ausgesprochen. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

MOONDOG: Nun, ich hatte nie etwas gegen Computer-Instrumente als solche, ich haßte nur den Klang der frühen Instrumente. Für mich klangen diese Synthesizer nach Plastik, vor allem der Moog! Heute haben wir bessere Geräte, heute können Sie eine Oboe oder eine Marimba in einen Computer geben, und wenn Sie den Klang abrufen, klingt es noch immer wie eine Oboe oder eine Marimba.

KEYBOARDS: Sie sind also nicht an Klangsynthese interessiert, sondern an der naturgetreuen Wiedergabe traditioneller Instrumente.

MOONDOG: Ja, denn ich mag keine Imitationen. Sicher ist ein Oboen-Sample in technischer Hinsicht auch eine Imitation, aber es stammt zumindest aus der ursprünglichen Quelle, und es klingt wie eine Oboe. Synthetisierte Klänge sind dagegen von Anfang an künstlich und nicht realistisch. Ich mag realistische Klänge.

KEYBOARDS: Worin liegt für Ihre Arbeit der größte Vorteil von Computern?

MOONDOG: Nehmen Sie "Elpmas"! Dafür hab ich einige 16stimmige Kanons geschrieben, und die lassen sich auf einem Computer leicht realisieren. Aber versuchen Sie, Musiker dazu zu bekommen, daß sie einen 16stimmigen Kanon notengetreu spielen! Da schleichen sich unweigerlich Fehler ein.

KEYBOARDS: Auf Ihrem neuen Album "Sax Pax For A Sax" haben Sie nicht mehr mit Samples gearbeitet. Warum nicht?

MOONDOG: Weil es keinen Grund gab, denn die Musiker spielten perfekt. Das einzige Tasteninstrument, das Sie dort hören, ist ein Klavier. Obwohl es manchmal schwer herauszuhören ist. Es tut mir ein bißchen leid für die Pianisten [Liam Noble, Peter Blackwood], denn sie spielten sehr gut.

KEYBOARDS: Sie haben einmal, um Ihre Kompositionsweise zu erklären, die Begriffe Extracting und Intracting benutzt. Was haben Sie damit gemeint?

MOONDOG: Mmmh ... [Pause] Nun, ich erinnere mich, diese Begriffe verwendet zu haben, aber ich weiß nicht mehr genau, was ich gemeint habe. Extracting ist der Gegensatz von Intracting, das ist klar, aber was war die Verbindung zwischen den beiden?

KEYBOARDS: Es ging um die Aufführung Ihrer Werke. Sie sprachen davon, daß Sie Ihren Musikern nicht die komplette Partitur einer Komposition vorlegen, sondern nur die einzelnen Partien, aus denen sich dann erst in der Aufführung die Partitur zusammensetzt.

MOONDOG: Oh ja, ich weiß, was ich gemeint habe! Die meisten Komponisten schreiben zuerst eine Partitur, und dann extrahieren sie die Einzelstimmen. Ich hingegen habe nur die Einzelstimmen, und wenn ich sie spielen lasse, setzt sich die Partitur zusammen. Das habe ich Intracting genannt.

KEYBOARDS: Was ist der Vorteil dieses Verfahrens?

MOONDOG: Nun, wenn ich die einzelnen Parts habe und sie spielen lasse, habe ich die Partitur im Kopf. Vor allem dann, wenn ich selber der Dirigent,bin, brauche ich keine Partitur. Die Musiker spielen ihre Parts, und ich höre hier oben [deutet auf seinen Kopf], ob sie richtig spielen oder nicht. Manchmal gebe ich ihnen auch Lead-sheets. Das heißt, sie kennen nicht die komplette Musik, aber sie können ihre Einsätze vom Blatt ablesen.

KEYBOARDS: Ist das nicht eine sehr mechanische Methode? Ein Musiker, der seinen Part vom Blatt spielt, ohne die gesamte Komposition zu kennen, kann doch unmöglich mit "Ausdruck" spielen.

MOONDOG: Ja, aber was ich von den Musikern erwarte, ist nicht "Ausdruck", sondern daß sie richtig spielen. Mehr verlange ich nicht.

KEYBOARDS: Sie haben die Stücke auf "Sax Pax..." unter den Obertitel "ZAJAZ" gestellt. Was hat es damit auf sich?

MOONDOG: Sie können das Wort in beide Richtungen lesen; es ist ein Ausdruck für die Janusköpfigkeit dieser Art von Jazz. Es sind zwei Gesichter; das eine blickt nach vorn, das andere nach hinten. Das eine blickt in die Richtung des Kontrapunkts, denn so sind die Stücke komponiert, und das andere blickt in die Richtung des alten New Yorker Jazz und der indianischen Rhythmen. Beide Elemente habe ich in diesen Stücken miteinander verbunden, eine Kombination der Alten Welt und der Neuen Welt - Europa und Amerika in einem!

KEYBOARDS: Würden Sie diese Kompositionen als "richtigen" Jazz bezeichnen? Da ist ja nichts improvisiert.

MOONDOG: Ja, denn mein Jazz ist mehr von der Musik der Indianer beeinflußt als von der afro-amerikanischen Tradition. Aber wenn ich "jazz" oder "ZAJAZ" sage, dann halte ich damit auch einige Leute zum Narren, die denken, es sei Jazz, so wie sie ihn kennen. Sie hören die Synkopen und denken, es ist ihre Art von Jazz. Sie merken nicht, daß die Form eine klassische ist, und sind überrascht, wenn ich ihnen zeige, daß die Stücke kontrapunktisch gebaut sind. [lacht] Sie sehen, es ist ziemlich leicht, Leute zu überlisten.

KEYBOARDS: Ende der achtziger Jahre haben Sie begonnen, mit Musikern aus dem Pop-Bereich zu arbeiten, zum Beispiel mit Stefan Eicher [Anm.: Moondog war 1989 auch an Eichers Album "My Place" beteiligt.] Hat diese Zusammenarbeit irgendeinen Einfluß auf Ihre Kompositionsweise gehabt?

MOONDOG: Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Musiker nur als Ausführende verwendet.

KEYBOARDS: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit Popmusikern zu arbeiten?

MOONDOG: Sie wurden mir vorgestellt. Bei "Sax Pax For A Sax" war es der Bassist Danny Thompson, der sie für mich ausgesucht hat. Er ließ mich nach England kommen und in seinem Haus wohnen, wir gaben dort zwei Konzerte, und bei dieser Gelegenheit stellte er mir einige Leute vor.

KEYBOARDS: Nach dem, was Sie über Ihre Vorstellungen von Gesang gesagt haben, bin ich um so überraschter, daß zu den Chorsängern auf "Sax Pax..." auch Peter Hammill [ex Van Der Graaf Generator] gehört, denn er gilt ja als Prototyp eines melodramatischen Sängers. Warum haben Sie ihn engagiert, wenn Sie eher Belcanto-Gesang mögen?

MOONDOG: Ja, Sie haben recht, er hat ein sehr, sehr starkes Vibrato in seiner Stimme, was ich überhaupt nicht mag. Ursprünglich wollte ich ihm auch sagen: "Bitte, kein Vibrato!" Aber ich bekam den Mund nicht auf, denn ich wollte seine Gefühle nicht verletzen, also ließ ich ihn weitermachen. Aber auf den fertigen Aufnahmen war er wie alle anderen Sänger in den Chor eingebunden, und wenn Sie einen Chor haben, bekommen Sie ein Belcanto. Darum arbeite ich gern mit Chören.

KEYBOARDS: Wie haben Sie Hammill kennengelernt?

MOONDOG: Nun, er lebt in Bath und hat dort ein Studio gleich neben dem Studio, in dem wir dieses Album gemixt haben. Ein Saxophonist meiner Gruppe lud ihn ein, auf einigen Stücken zu singen. Also machten wir Aufnahmen von seinem Gesang und fügten sie ein. Es waren Overdubs. Aber ich kannte ihn vorher nicht, und weiß auch nicht, was für eine Musik er so macht.

KEYBOARDS: Haben Sie schon beim Komponieren eine Vorstellung, von welchen Instrumenten Sie ein Stück spielen lassen wollen, oder ist das Orchestrieren ein separater Teil Ihrer Arbeit?

MOONDOG: Nun, es ist bei mir nicht wie bei Debussy, dem Klangfarben wichtiger waren als musikalische Ideen. Ich arbeite mehr wie Bach. Zunächst schreibe ich ein Stück, und dann kann es von ganz verschiedenen Besetzungen aufgeführt werden. Die Kombination der Instrumente sehe ich unabhängig von der Komposition.

KEYBOARDS: Eine eher abstrakte Arbeitsweise.

MOONDOG: Ja, absolut.

KEYBOARDS: ... die leicht zu einer "kalten" Musik führen kann. Aber Ihre Kompositionen haben oft einen romantischen Charakter, Songs wie "Fujiyama" zum Beispiel [auf "Elpmas"].

MOONDOG: Nun, es ist wie mit Ihrem Eindruck, daß in meinen Stücken improvisiert wird. Wenn Ihnen meine Musik romantisch vorkommt, habe ich nichts dagegen, obwohl sie nichts zu tun hat mit dieser Epoche der klassischen Musik. Aber Sie sollten daraus nicht auf die Komposition schließen. Die Struktur meiner Stücke ist streng, nur die Klangfarben sind vielleicht das, was Sie "romantisch" nennen.

KEYBOARDS: In den meisten Ihrer Kompositionen spielen Rhythmus und Percussion eine große Rolle.

MOONDOG: Das ist der indianische Einfluß. Wenn Sie Indianer singen hören, die Sioux zum Beispiel oder die Cheyenne, werden Sie merken, daß ihr Gesang sehr frei klingt, aber darunter liegt der regelmäßige Beat der Trommeln. Dieser Beat ist sehr wichtig. Das universale musikalische Symbol ist ja ein Beat, der heartbeat. Jeder von uns trägt ihn in seiner Brust. Und wenn Sie sich näher damit befassen, werden Sie feststellen, daß Percussion auch in musikalischen Formen eine Rolle spielt, wo Sie sie vielleicht nicht erwartet hätten. Ich war mir zum Beispiel immer bewußt, daß Rhythmen in der Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock eine große Rolle spielen, vor allem in Renaissance-Musik der Zeit Heinrichs des Achten [1509-1547].
Aber ich habe erst kürzlich gemerkt, wie viel percussion dort verwendet wurde, denn ich bereite gerade ein Album für alte Instrumente vor und habe auch schon einige Musiker, die darauf spielen werden. Und diese Musiker waren überhaupt nicht schockiert, als ich mit all meinen Trommeln hereinkam, denn sie waren daran gewöhnt. Sie hatten sogar selber eine Basstrommel, die fast so klang wie die Trommel von Chief Yellow Calf.
Es ist nur schade, daß man heute die großen Basstrommeln mit synthetischen Fellen bespannt - kein Vergleich mit dem Klang von echtem Leder! Darum werde ich mir für diese Aufnahmen vielleicht eine Trommel bauen lassen, die Felle aus Leder hat. Als ich aus Amerika nach Europa kam, mußte ich leider einen Teil meiner Trommeln zurücklassen, und ich merke immer mehr, wie sehr sie mir fehlen.

KEYBOARDS: Entwickeln Sie Ihre Rhythmen aus den Melodiestimmen, oder unterlegen Sie die Rhythmen den Stimmen, wenn die Komposition in melodischer Hinsicht fertig ist?

MOONDOG: Nun, auf dem Saxophon-Album ließ ich den Snare-Drummer Parts spielen, die zu den Stimmen paßten. Ich sagte zum Beispiel: "Hören Sie sich an, was Saxophon 1 spielt, und verdoppeln Sie diesen Part!" Natürlich kann man es auch umgekehrt machen, sich ein Drum-Pattern ausdenken und es separat spielen lassen; dann hat es nichts mit den Rhythmen in der Melodie zu tun.

KEYBOARDS: Welches der beiden Verfahren bevorzugen Sie?

MOONDOG: Beide haben ihre Vorzüge, also verwende ich auch beide.

KEYBOARDS: Sie haben von einem Album für alte Instrumente gesprochen.

MOONDOG: Mein nächstes Projekt.

KEYBOARDS: Wie sieht dieses Projekt aus?

MOONDOG: Nun, ich werde mit Instrumenten wie Gamben und Drehleiern arbeiten. Ich hatte immer eine sehr schlechte Meinung von der Drehleier, bis ich den wahrscheinlich besten Drehleierspieler der Welt gehört habe. Sein Name ist, wenn ich mich recht erinnere, Ricardo Fini. Er schickte mir ein Tape, und ich merkte zum ersten Mal, was man mit dem Instrument alles machen kann.
Ein anderes Instrument, das mich sehr interessiert, ist die Schlüsselfidel [Anm: Schlüssel = Tasten; eine Variante der Drehleier, längliches Streichinstrument mit ovalem Korpus, zwei Schallöchern und Griffbrett mit hebelartigen Tasten; durch Andrücken der Tasten werden die Saiten verkürzt]. Das Instrument stammt aus Schweden, und der Spieler, ein Schweizer, ist ein großer Virtuose. Diese und einige andere alte Instrumente will ich auf dem Album kombinieren.
Anschließend habe ich ein Album vor, für das ich schon eine Menge Klavierstücke geschrieben habe, zweistimmige Kanons für Klavier und Trommel. Wobei das Klavier in der Reinen Stimmung gestimmt ist, nicht in der wohltemperierten. Das heißt, wenn ich in C-Dur, a-MolI, D-Dur, G-Dur und so weiter komponiere, also in Tonarten mit nur wenigen Vorzeichen, kann ich das Klavier in perfekten Quarten und Quinten stimmen und bekomme eine Klangreinheit, die sensationell ist. Aber niemand stimmt ein Klavier so. Wenn heute jemand ein Klavier umstimmt, dann immer so, daß es am Ende verstimmt klingt - alle Quarten und Quinten sind out of tune. Ich glaube, die Leute werden sehr überrascht sein, wenn sie dieses Album hören, denn mein Klavier klingt sauber. Darüber hinaus schreibe ich zur Zeit eine Menge Musik für Bigband. Das wird wieder die Saxophon-Gruppe sein, die ich zur Zeit habe, plus sieben Holzbläser. Und ich werde ein Album machen, auf dem eine etwa zwanzigköpfige Bigband aus Blechbläsern spielt, mit Klavier und Schlagzeug und Pauken natürlich.

KEYBOARDS: Wenn Leute in, sagen wir, fünfzig Jahren Ihre Werke hören, glauben Sie, daß sie Sie dann eher als Klassizisten oder als Avantgardisten des 20. Jahrhunderts betrachten werden?

MOONDOG: Ich hoffe, sie werden mich als das sehen, was ich bin. Ich bin ultrakonservativ. Ich rebelliere gegen die Rebellen. Die Rebellen sind für mich die Atonalisten und Polytonalisten. Ich bleibe der Tonalität und den alten Formen treu, weil ich denke, daß ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft sind und auch nie ausgeschöpft werden können. Also bin ich zweifellos ein Klassizist. Aber von meinem größten Werk haben Sie noch nichts gehört. Ich habe in den ersten neun Obertönen einen Code entdeckt, der kosmische Strukturen wie Kontraktion und Expansion enthält. Und wenn das in den Obertönen steckt, dann heißt es, daß diese Strukturen schon so lange existieren wie die Obertöne, und wer immer Obertöne erschaffen hat, hat auch diesen Code erschaffen. Für mich ist das der Beweis, daß Gott existiert, denn niemand sonst hätte diesen "Cosmicode" erschaffen können. Das ist die größte Entdeckung, die man machen kann - der Beweis, daß es Gott gibt.

KEYBOARDS: Hatten Sie vorher an Gott glaubt?

MOONDOG: Ich war viele Jahre lang Skeptizist, ein Agnostiker. Aber als ich diesen Code entdeckte, war es für mich die Offenbarung, dass es eine höhere Intelligenz gibt, die will, daß wir von ihrer Existenz wissen.

KEYBOARDS: Wie sind Sie auf diesen Code gestoßen?

MOONDOG: Nun, ich fing an, mit den Obertönen zu arbeiten, als ich nach dem Thema für eine Komposition suchte, und plötzlich stolperte ich über dieses Muster. Ich sagte mir, da muß irgendeine Intelligenz am Werk sein, denn das Ganze ist ein mathematisch präzises Muster. Also habe ich mich gefragt: Wenn der Code in den Obertönen steckt, wer hat dann die Obertöne erfunden? Ein menschliches Wesen kann es nicht gewesen sein. Bei den Obertönen handelt es sich ja um Klangwellen, und das heißt, so lange es diese Klangwellen im Kosmos gibt, hat es auch diesen Code gegeben; er hat nur darauf gewartet, daß jemand kommt wie wir und ihn knackt.
Stellen Sie sich das vor: der Code war von Anfang an da, bevor es diese Galaxie gab, unser Sternensystem, unsere Erde! Er war da und wartete darauf, daß irgendein Wesen kommt, das ihn entschlüsselt. Beinahe unvorstellbar! Und da sind wir nun mit unserer Zivilisation, die gerade 10.000 Jahre alt ist, und einer von uns ist zur rechten Zeit am rechten Ort, um sich zu fragen: Was ist das? Denn ich habe ja nicht danach gesucht, ich bin darüber gestolpert, und ich konnte mit bis dahin nicht einmal vorstellen, daß es so etwas gibt.
Verstehen Sie, die Bibel spricht immer nur von dem, was Gott den Menschen sagt, sie spricht von den zehn Geboten, von diesem und jenem, aber nichts davon ist beweisbar. Aber hier ist der Beweis, im Klang der Obertonreihe! Hören Sie das [singt] "Oooooouuuüuiiiii...". Wenn ich zu "iiiii" komme - das ist die Obertonreihe, und wir haben haben den Beweis in unserer Kehle. Können sich einen intimeren und zugleich universaleren vorstellen?
Sie und ich, wir alle haben den Beweis in unserer Kehle, denn dort liegt der Code. Aber keinem ist das bisher aufgefallen. Warum nur? Warum hat es 10.000 Jahre gedauert, bis es jemand hörte?

KEYBOARDS: Ein wissenschaftlicher Beweis ist das natürlich nicht.

MOONDOG: Nein, es ist eine völlig unwissenschaftliche Entdeckung. Aber das hat mit der Arbeitsweise der Wissenschaftler zu tun. Wissenschaftler haben ja, bevor sie etwas entdecken, Theorien, die sie verifizieren oder falsifizieren wollen. Ich habe keine Theorie gehabt, ich bin zufällig darauf gestoßen. Darum ist es keine Theorie, sondern eine Tatsache, und ich weiß nicht, wie die Wissenschaftler darauf reagieren werden. Es bedeutet bad news für sie, denn nun müssen sie aufhören, Gott zu spielen, weil sie sich Gott selber gegenübersehen. Hier ist der Plan, hier ist der Entwurf für das Universum, hier ist die Struktur! [lacht]
Ich werde Probleme mit den Wissenschaftlern bekommen und mit den Religionen, denn ich werfe ihre Theorien über den Haufen. Wußten Sie, daß kein Gericht in Amerika die Bibel als Beweismittel akzeptiert? Der Richter würde sagen: "Wir können sie als Beweismittel nicht zulassen, denn sie beruht auf hearsay." Sie wissen, was ich meine?

KEYBOARDS: Hörensagen, ein Gerücht.

MOONDOG: Ja, etwas das gesagt worden ist. Sie würden es in kein Gerichtsverfahren einführen können, denn man würde es als Beweis jenseits allen Zweifels nicht akzeptieren. Der Richter würde sagen, daß alles, was in der Bibel steht, auf Hörensagen beruht und nicht bewiesen werden kann. Aber dies ist das erste Mal, daß wir den Beweis haben! Er steckt in dem Code der Obertöne, und er ist genauso wirklich wie Luft und Wasser und Schwerkraft.

KEYBOARDS: Sie haben den Code bisher für sich behalten.

MOONDOG: Nein, ich habe alles dokumentiert, ich habe das Muster aufgezeichnet, so daß Sie es leicht begreifen können. Es ist auch gerade ein Buch mit dem Titel "Soundpieces" erschienen [s. u.: Lektüre]. Es enthält Interviews mit achtzehn zeitgenössischen Komponisten, und dort haben sie mir Gelegenheit gegeben, über die Obertöne zu sprechen und über das, was ich darüber herausgefunden habe.
Sie werden in nächster Zeit noch sehr viel mehr darüber erfahren, denn verschiedene Magazine und Zeitungen haben schon begonnen, darüber zu berichten. Es ist die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit. Darwins Evolutionstheorie und Einsteins Relativitätstheorie waren sicher großartig, aber nichts im Vergleich dazu! Denn es waren alles Theorien, aber dies ist keine Theorie, sondern Tatsache.
Sie hat mich dazu geführt, meine Musik in einem neuen Licht zu sehen. Meine Musik ist hübsch, aber sie bedeutet nichts im Vergleich zu dieser Entdeckung. Wer hätte sich je träumen lassen, daß so etwas möglich sein würde?